Von Michael Kotsch
Vergessen ist doch ganz gut, manchmal sogar notwendig, könnte man hier einwenden. Und das stimmt auch. Wer immer nur daran denkt, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist oder was andere Menschen einem Übles getan haben, geht innerlich kaputt. Entweder entwickelt er einen Hass auf alle anderen, weil sie ihm Schaden und Verletzungen zugefügt haben. Oder er wird zynisch und distanziert, er lacht über alles und lässt nichts mehr an sich herankommen, um nicht erneut verletzt zu werden. Oder er rutscht in Verzweiflung und Depression ab, weil er jede Perspektive im Leben verloren hat.
Alle diese Reaktionen sind nachvollziehbar, aber sie sind keine wirklichen Lösungen. Sie töten den Menschen innerlich ab. Sie fügen anderen weiterhin Leid zu. Und sie verbauen jede Möglichkeit, dem eigenen Leben noch eine andere Wendung zu geben.
Natürlich ist es gelegentlich hilfreich, schmerzhafte Dinge zu vergessen, anderen Menschen zu vergeben, sich auf das Positive zu konzentrieren. In anderen Situationen aber wäre es gut, sich zu erinnern, um nicht immer und immer wieder dieselben Fehler zu machen – wie die Biene, die bis zum Tod gegen die gleiche Fensterscheibe fliegt, weil sie jedes Mal vergessen hat, dass sie schon Sekunden zuvor vergeblich den gleichen Versuch unternommen hat durchs Glas zu fliegen.
Die alltägliche Vergesslichkeit ist amüsant und ohne große Konsequenzen. Kaum einer erinnert sich noch an die Filme oder Romane, die er vor einem Jahr gesehen hat, selbst wenn man sie damals ganz unterhaltsam fand. Und wer sich an den Namen des Films erinnert, hat den Inhalt der meisten vergessen.
Schon schwieriger ist es, wenn man Personen vergessen hat, die einmal im Leben eine wichtige Rolle gespielt haben oder wenn man sich nach Jahren der Abwesenheit nicht mehr erinnert wo was in einer Stadt war, in der man einmal zuhause war.
Noch unangenehmer ist es, wenn man die Sachen im eigenen Haus oder Schreibtisch nicht mehr wiederfindet, weil man vergessen hat, wohin sie verstaut wurden. Zum Glück hat zumindest der Computer ein Suchprogramm für verlegte Dokumente und andere Dateien.
Krankhaft kann es im Alter werden, wenn man in dementem Zustand selbst seine nächsten Angehörigen nicht mehr wiedererkennt.
Mit der passenden Methode kann man sich Vokabeln der Namen auch über längere Zeit einprägen. Einige Verhaltensregeln helfen tatsächlich nicht immer wieder aus der Haut zu fahren und den Kopf zu verlieren.
Gewisse Dinge zu vergessen kann durchaus sinnvoll sein, auch wenn es nervt, denn dadurch wird Platz für neue Information geschaffen, die im Augenblick von größerer Bedeutung sind. Bei anderen Daten aber wäre es sehr hilfreich, wenn sie auch längerfristig zur Verfügung stünden, weil sie große Auswirkungen auf das eigene Leben und das Leben anderer Menschen haben.
Manchen miesen Arbeitstag oder Urlaub vergessen wir durchaus gerne. Wer aber zu schnell vergisst, warum eine Beziehung zerbrochen ist und sich sofort in die nächste stürzt, steht in der Gefahr, dieselben Verhaltensfehler immer zu wiederholen.
Wer zu schnell vergisst, wie er von Betrügern mit falschen Versprechungen über den Tisch gezogen wurde, wird immer wieder auf dieselbe Masche hereinfallen. Wer in seliger Ostalgie zu schnell die Unterdrückungen des Sozialismus vergisst, bereitet den Boden für eine nächste Meinungsdiktatur.
Religiöse Verführer, Werbefachleute und Politiker bauen auf die kurze Erinnerung ihrer Anhänger. Regelmäßig versprechen sie Dinge, die dann später nicht eintreffen oder von ihnen nicht gehalten werden. In dem Augenblick in dem die Versprechungen gegeben werden aber mobilisieren sie die Menschen und machen sie zu begeisterten Anhängern. Die spätere Enttäuschung ist schon bald wieder vergessen und dann wollen die Fans neue „falsche“ Versprechungen hören und ihnen glauben.
Da erfüllt es sich wirklich: „Wer schnell vergisst ist eher tot“. Die eigenen, immer wieder „vergessenen“ Fehler, töten viele Menschen schlussendlich. Trotz zahlreicher Chancen zur Veränderung hält man aus Trägheit, Mutlosigkeit oder Vergesslichkeit an den als falsch erkannten Verhaltens- und Denkweisen fest. Und dann stirbt man an zu viel Alkohol, am endlosen „Clown spielen“, am zu riskanten Fahren, an der Suche nach schneller „Liebe“ oder am eigenen Egoismus. Manchmal ist das auch ein langsames Sterben, ein Dahinsiechen ehe der Körper seinen Geist aufgibt.
Wer Gott kennt muss die schmerzhaften Erfahrungen nicht verdrängen und vergessen. Er kann sich der Vergangenheit stellen, weil Gott Fehler vergibt und hilft mit deren Konsequenzen zu leben. Gott will allerdings auch die Erinnerung an Fehler der Vergangenheit wach halten, damit sie sich nicht endlos wiederholen. Wem die Kraft fehlt, sich oder sein Leben zu verändern, dem will Gott Einsicht und Kraft geben, zu schaffen, was alleine nicht zu schaffen ist. Allerdings muss man sich dann auf die Regeln und Prinzipien Gottes einlassen.