von Rolf Müller
Vorwort
Durch die Medien werden wir heute so umfassend informiert, dass wir manchmal nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Wir hören, was in der Welt passiert. Wir erfahren, was Politiker der verschiedenen Parteien dazu sagen. Sie machen uns mit ihren Vorschlägen zur Problemlösung bekannt.
Sie werben um Wählerstimmen. Soweit so gut. Dem alten Mann fällt auf, dass die Medien oft nicht objektiv berichten. Sie verfolgen eine bestimmte Richtung. Sie nehmen einseitig Einfluss auf die Meinungsbildung. Sie geben vor, wie die Ereignisse zu bewerten sind.
Sie beeinflussen das Denken und machen sich zum Handlanger der vorherrschenden politischen Strömung. Die Medien sind Sprachrohr der Staatsmacht. Der alte Mann hat das in 40 Jahren DDR-Diktatur täglich erdulden müssen. Er konnte sich nicht auf die Berichte der Medien verlassen. Das ist auch heute wieder so und zeigt sich daran, worüber berichtet wird und worüber nicht. Doch das bleibt den mündigen Bürgern nicht verborgen und führt schließlich zu allgemeiner Politikverdrossenheit.
Christen wurden in der DDR benachteiligt und bedrängt und manche eingesperrt, aber nicht im großen Stil verfolgt. Die Schwierigkeiten begannen, wenn man seinen Glauben bekannte und lebte. Wer sich dem sozialistischen System anpasste, wurde in Ruhe gelassen. Als ein Bekannter aus einem christlichen Jugendkreis zur Nationalen Volksarmee (NVA) einberufen wurde, betete die Gemeinde für ihn. Als er auf Urlaub kam, fragten wir nach seinem Ergehen. Er sagte: „Alles gut, es hat keiner gemerkt, dass ich Christ bin!“
Manchmal hätten wir uns gewünscht, in einer besseren Zeit zu leben. Aber es war unsere Zeit. Es war genau die Zeit, in der uns Gott haben wollte. Es war der Platz, an den uns der Herr gestellt hatte. Die Erinnerungen des alten Mannes sind sehr persönlich gefärbt. Das ist gewollt, so hat er diese Zeit empfunden.
Auch nach dem Untergang der DDR war nicht alles Gold, was glänzte. Alle Zeit ist Gottes Zeit. Der alte Mann sehnt sich nicht nach der DDR zurück, er weint ihr keine Träne nach. Er mochte nicht noch einmal Zwanzig sein. Er ist auf dem Heimweg. Er hat ein langes erfülltes Leben hinter sich, in dem die 40 Jahre DDR nur eine Episode sind. Das Schönste kommt noch!
Gründung der DDR – Damals war ich 13
Am 7. Oktober 1949 wurde auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Wilhelm Pieck wurde zum ersten und einzigen Staatspräsident der DDR gewählt. In seiner Antrittsrede nennt er die DDR ein Kerngebiet für das künftige einheitliche demokratische Deutschland. Von Souveränität konnte keine Rede sein. In allen entscheidenden Fragen wurden die Geschicke der DDR von sowjetischen „Beratern“ gelenkt.
Ich war damals 13 Jahre alt und das das ganze Theater ging spurlos an unseren Köpfen und Gedanken vorbei. Unsere Lehrer in der Schule erwähnten das Geschehen nur beiläufig und uns interessierte damals wenig, was sich auf Regierungsebene abspielte. Wir hatten andere Sorgen und Anliegen.
Der 17. Juni 1953 war ein Tag, den der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte. Im ersten Halbjahr 1953 verlassen 25 000 Menschen die DDR. Die SED sprach später vom „Ausbluten“, vergaß aber zu erwähnen, dass sie selbst es war, die dem Land die Wunden zugefügt hatte. Das Volk soll umgemodelt werden, bis es dem Stalinistischen Kommunismus entspricht.
Die DDR verschärft trotz der angespannten Versorgungslage den „Klassenkampf“ nach innen. Sie bekämpft Handwerker, Selbständige und Künstler. Das Volk soll kommunistisch umgewandelt und von einer Einheitspartei zu einer Einheitsgesinnung gebracht werden.
Die Arbeiter gingen in vielen Städten auf die Straße und erklärten, dass sie diesen „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht wollten. Das Zentralkomitee der SED beschließt am 14. Mai 1953 eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen für alle. Die Empörung unter den Werktätigen ist groß. Die SED-Führung räumt öffentlich Fehler ein und nimmt bereits eingeleitete Maßnahmen zur Kollektivierung der Landwirtschaft wieder zurück. Es ist zu spät, das Fass kommt zum Überlaufen. Am 17. Juni 1953 bricht in mehr als 300 Städten und Gemeinden ein Volksaufstand los. Mit sowjetischen Panzern wird der Aufstand gewaltsam mit Blutvergießen niedergeschlagen.
Die Fähigkeit, naheliegende Probleme zu übersehen, nennt man Weitblick. 1956 ereignet sich Ähnliches in Ungarn. Auch dieser Aufstand wird mit der Schlagkraft sowjetischer Truppen beendet.
„Spitzbart, Bauch und Brille …“
„Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht Volkes Wille!“ Der „Spitzbart“ war Walter Ulbricht, „Bauch“ nannten sie den rundlichen Wilhelm Pieck und mit „Brille“ war Ministerpräsident Otto Grotewohl gemeint. Die Forderungen: Rücknahme der Normerhöhungen, Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen und Abschaffung der Zonengrenze.
Auch gegen bekennende Christen lief in den fünfziger Jahren eine Kampagne seitens der DDR-Führung. Ich war bei einer Evangelisation in der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Vielau zum Glauben gekommen. Man wollte uns das Singen christlicher Lieder außerhalb von kirchlichen Gebäuden und Grundstücken untersagen. Junge Leute in christlichen Gemeinden wurden mit Argwohn beobachtet. Gemeinde Jesu wächst in der Bedrängnis und sie wird bedrängt, wenn sie wächst.
Am 13. August 1961 wurde in Ostberlin mit dem Bau einer Mauer begonnen, die dann beschönigend als „Antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet wurde. In Wirklichkeit wurde die eigene Bevölkerung der DDR eingemauert und die Beziehung zur „freien Welt“ unterbunden. Kurz vorher, am 15. Mai 1961, hatte Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz erklärt:
„Ich verstehe ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau … Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten … Wir sind für vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen Westberlin und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Das ist der einfachste und normalste Weg zur Regelung dieser Fragen.“
Soviel zur Vertrauenswürdigkeit der Politiker. Die SED, die „Partei der Arbeiterklasse“, hatte auf ihre eigene Weise eine fast religiöse Dimension. Die Parteiversammlungen waren die Gottesdienste, die Agitatoren missionierten, die Mitgliederaufnahme stand für die Taufe, die Mitgliedsbeiträge standen für die Kirchensteuer, der Parteisekretär verkörperte den Priester, der Gott hatte den Namen Karl Marx, sein Vertreter auf Erden in der DDR hieß Erich Honecker. Der Teufel hatte für diese Leute mehrere Namen: Kapitalismus, NATO und Franz Josef Strauß. Die Bibel war das kommunistische Manifest. Es gab „Gebote der soziaalistischen Moral“ und viele „Losungen“, die gut sichtbar in Rot und Weiß zum Glauben an den Staat aufriefen.
Am Wilkauer Bahnhof konnte man auf einem Transparent lesen: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist!“ Die Realität sah anders aus. Wir hörten und lasen die Botschaft, aber uns fehlte der Glaube. Tatsache war: Der Marxismus erwies sich nicht als allmächtig und von Wahrheit keine Spur. Das durfte man aber nicht laut sagen.
Die Geschicke der DDR wurden von sowjetischen „Beratern“ gelenkt. Präsident Wilhelm Pieck erklärte in seiner Antrittsrede am 11. Oktober 1949 vor der Volkskammer:
„Die Freude und Genugtuung des deutschen Volkes über die wiedererlangte Souveränität, über die Gründung eines selbständigen freien Deutschland, unserer Deutschen Demokratischen Republik, wird getrübt durch die Tatsache, dass Deutschland durch die westlichen Besatzungsmächte zerrissen wurde.“
Stalins Tod, NVA und Mauerbau
Stalin stirbt am 5. März 1953 in Moskau. Während seiner Krankheitszeit wurde jede halbe Stunde auf dem Hauptmarkt in Zwickau über Lautsprecher das neueste ärztliche Bulletin verkündet. Ich erfuhr, während ich auf die Straßenbahn wartete, ob das Fieber zurückgegangen oder wieder gestiegen war. Das nervte gewaltig. Es war der damals übliche Personenkult, den man dem „Halbgott“ Josef Stalin schuldig zu sein glaubte.
Bis 1962 war die NVA eine Freiwilligenarmee. Mit großem Propagandaaufwand bemühte sich das SED-Regime, die Jugend für den Waffendienst zu begeistern. Auch in unserem Betrieb versuchten Offiziere der NVA im Verein mit der Parteileitung unseres Betriebes Druck zu machen. Ziel war eine freiwillige Selbstverpflichtung, drei Jahre zur Armee zu gehen. Die Jugendlichen wurden, jeder einzeln, in einen Raum geholt, wo sie von sechs Werbern verbal attackiert wurden.
Bei uns in Betrieb sah das so aus: Kaum hatte ich Platz genommen, fragte mich ein Offizier, dass doch im Korintherbrief stehe, dass sich Kain eine Frau genommen habe. „Woher hatte Kain seine Frau?“ Ich erwiderte, dass das nicht im Korintherbrief, sondern im 1. Buch Mose steht. Daraufhin entwickelte sich eine Art Bibelgespräch, dem ich erstens entnehmen konnte, dass diese Leute von der Betriebsleitung informiert waren, dass ich Christ bin und dass sie zweitens von biblischen Dingen keine Ahnung hatten. Als sie nach einer ganzen Weile auf den Punkt kamen und wissen wollten, ob ich mich für drei Jahre Dienst in der NVA verpflichten wolle, sagte ich: „Nein.“
Sie wollten mich mit einem praktischen Beispiel überzeugen: „Stellen Sie sich vor, ein Aggressor betritt Ihr Wohnzimmer, greift sich Ihr Radio, Ihr bestes Stück, und verschwindet damit. Würden Sie sich das einfach gefallen lassen?“ Ich dachte an unser damaliges Rundfunkgerät, einen „Volksempfänger“, eine sogenannte „Göbbelsharfe“, das wir längst auf den Müll schmeißen wollten, und antwortete: „Ja.“ Dann fügte ich noch einen Bibelvers an: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann biete ihm auch die linke dar.“ Sie sahen mich entgeistert an und ich durfte gehen.
Der Mauerbau hatte sich angekündigt und kam dennoch überraschend. Auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 hatte Walter Ulbricht noch erklärt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Nur wenige Wochen später, am 13. August 1961, bleiben die Grenzübergänge geschlossen. Bewaffnete Kräfte marschieren auf, der Verkehr wird unterbrochen. Das Volk der DDR wird eingemauert. Der „antifaschistische Schutzwall“ schützt nicht vor Angriffen von außen, sondern verhindert, dass immer mehr Bürger dem DDR-Staat den Rücken kehren.
„Vorwärts ins dritte Jahrzehnt der DDR!“
Der XX. Jahrestag der DDR wurde groß gefeiert. Das war allgegenwärtig auf vielen Plakaten, Presseerzeugnissen und Hauswänden, auf Abzeichen und Urkunden zu lesen. „Vorwärts ins dritte Jahrzehnt der DDR!“ – „Der Sozialismus ist der unaufhaltsame Fortschritt auf allen Gebieten des Lebens!“ – „Der Sozialismus siegt!“ – „Was die DDR heute ist, wurde sie unter der bewährten Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei in den revolutionären Kämpfen zweier Jahrzehnte.“ – „Bürger unserer Republik sein bedeutet, zu den Siegern der Geschichte zu gehören.“
Die ganze Kunst des Redens bestand darin, zu wissen, was man nicht sagen darf. (Und heute? Geschichte wiederholt sich!)
Ein weiterer politischer Einschnitt war der VIII. Parteitag der SED. Er tagte vom 15. bis 19. Juni 1971 in Berlin. Es war Erich Honeckers erster Parteitag als 1. Sekretär des ZK der SED. Walter Ulbricht durfte nicht einmal mehr teilnehmen, er hatte krank zu sein. Als Hauptaufgabe wurde die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität verkündet. Sparen mit jedem Gramm, jeder Sekunde, jedem Pfennig – koste es, was es wolle. Je schwächer eine Überzeugung ist, umso lautstärker wird sie vertreten. Planung beginnt damit, dass man überlegt, was man will.
Finanzkrise, Strauß, Stasi, Revolution
1982/83 steckte die DDR in einer tiefen Finanzkrise. Retter in der Not wurde der CSU-Politiker Franz Josef Strauß. Durch seine Vermittlung wurde von der Bayrischen Landesbank ein Kredit über eine Milliarde DM unterschrieben. Strauß wurde von der SED jahrzehntelang als der übelste imperialistische Klassenfeind präsentiert. Die DDR brauchte das Geld so sehr, dass ihr egal war, wer es beschaffte.
9. November 1989: Was noch hundert Jahre stehen sollte, fiel in dieser Nacht. Die Mauer öffnete sich. Günter Schabowski verlas auf der Pressekonferenz einen Zettel und kündigte unbeschränkte Reisemöglichkeiten für alle an. Auf die Frage, ab wann das gelte, sagte er: „Unverzüglich!“ Mit diesem Wort fiel die Mauer. Der Grundstein wurde bei den Montagsdemonstrationen gelegt. Unter dem Motto „Wir sind das Volk!“ wurde das DDR-Regime in einer friedlichen Revolution gestürzt. (Auch wenn wir heute vermuten müssen, dass alles von langer Hand von den „Machteliten“ der Welt vorbereitet und geplant war).
Man kann einen Bericht über die Geschichte der DDR nicht beenden, ohne auf die allgegenwärtige STASI einzugehen. Die Behörde „Ministerium für Staatssicherheit“, der Staatssicherheitsdienst der DDR, war ein Überwachungsapparat von riesigem Ausmaß. Bei diesem „Denunzianten-Stadel“
waren, neben den Hauptamtlichen, auch unzählige „inoffizielle Mitarbeiter“ (IM´s) angestellt. Über missliebige Bürger wurden Dossiers angelegt, über manche sog. „Staatsfeinde“ mehrere Aktenordner. Man fühlte sich gegängelt und beobachtet, auch wenn man nichts Verbotenes getan hatte.
Der alte Mann saß mit einem Kollegen im Bus. An jedem Fenster klebten Plakate mit Werbung für die in Karl-Marx-Stadt laufenden „Arbeiterfestspiele“. Der Kollege deutete auf ein solches Plakat und meinte: „Das ist schon eine größere Nummer als eure Kirchenveranstaltungen. Da kommen Tausende zusammen“. Ich antwortete: „Das stimmt. Aber bei uns kommen die Leute freiwillig. Da kam ein Herr aus dem vorderen Teil des Busses zu uns und forderte uns auf, die Sätze zu wiederholen.
So viel zur Vertrauenswürdigkeit regierungsamtlicher Verlautbarungen. Diese Mauer, die „unabsichtlich“ gebaut wurde, hat Familien auseinandergerissen und während ihres Bestehens viele Todesopfer gefordert. Dermaßen isoliert hätten wir uns in Ruhe dem Aufbau einer sozialistischen glücklichen Gesellschaft widmen können. Doch „merkwürdigerweise“ vermuteten die meisten DDR-Bürger die „Insel der Seligen“ außerhalb ihres Arbeiter- und Bauern – Biotops und versuchten, ihr „Paradies“ zu verlassen – teilweise unter Lebensgefahr.
Ein Bauarbeiter bemerkte: „Wir sind das einzige Land, das seine Autobahn hochkant gebaut hat.“ Doch die Theorie auf den alltäglichen und überall sichtbaren Transparenten hieß: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist!“ In der Praxis erlebte der Bürger meist die Ohnmacht des Marxismus, vor allem auch in den Dingen des täglichen Bedarfs.
Mangelwirtschaft
Nach dem Mauerbau lag die DDR mit ihrer Wirtschaft ziemlich am Boden. Es wurde von allem zu wenig produziert, der Bedarf konnte nicht gedeckt werden. Es gab dauerhaft Lücken in den Regalen der Geschäfte. Das brachte die Leute in Rage und den SED-Mächtigen war bewusst: Von Sozialismus könne erst gesprochen werden, wenn sich zur Macht und zu den Produktionsverhältnissen auch ökonomische Effizienz geselle.
Das Einkaufen in der DDR wurde nicht davon bestimmt, was man brauchte, sondern davon, was es gerade gab. Der Verkäufer in der DDR fragte nicht: „Was wünschen Sie?“ Er sah den Kunden nur fragend an. Der Kunde sagte nicht: „Ich möchte ein Kilo Erdbeeren!“ Der DDR-Bürger fragte: „Haben Sie Erdbeeren?“ Die Antwort lautete dann meist: „Nein, wir haben nur keine Äpfel. Keine Erdbeeren gibt es im 2. Stock.“
In den sechziger Jahren gab es Kleidungsstücke aus synthetischem Material, die sehr begehrt waren. Man konnte sie aber nicht einfach im Laden kaufen, da brauchte man Beziehungen. Das sah dann so aus: Meine Schwester leitete eine Flesch-Verkaufsstelle in Zwickau. Ich sollte im KONSUMENT-Warenhaus im 1. Stock nach einer Frau Junghans fragen. „Guten Tag, viele Grüße von Renate!“ Frau Junghans schickte mich mit einer großen Tüte, in der sich eine Hose befand, in eine Kabine zum Anprobieren. Sie schärfte mir ein, die Hose vor dem Verlassen der Kabine unbedingt wider in der Tüte zu verstauen, damit niemand auf den „Schatz“ aufmerksam wird.
Nach dem Mauerbau wurden weitere Schritte der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik eingeleitet. Sie führten schließlich zum Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR, das die Volkskammer am 20. Februar 1967 verabschiedete. In den Personalaueweisen stand als Nationalität „deutsch“, aber als Staatsangehörigkeit „DDR“.
Jugendweihe statt Konfirmation
Wer in der DDR nach einem Jugendverband suchte, fand nur die FDJ, die Freie Deutsche Jugend. Man musste nicht eintreten, aber es war zweckmäßig für die Biografie eines jungen Menschen. Es hieß schon damals so (und heute wieder): Wem die Jugend gehört, dem gehört die Zukunft. Erich Honecker und sein Politbüro glaubten daran und genossen es, wenn bei den Pfingsttreffen der FDJ junges Volk parademäßig an ihnen vorbeizog. Die FDJ galt als die „Kampfreserve der Partei“.
Die „Jugendweihe“ war keine Erfindung der DDR, benutzte aber dieses Fest seit 1954 als Mittel im Machtkampf gegen die Kirche. „Jugendweihe statt Konfirmation“ lautete der Schlachtruf. Das hatte schließlich zur Folge, dass alljährlich Hunderttausende ein Gelöbnis auf den Sozialismus ablegten. Bei der Feier gab es folgendes Ritual:
„Liebe Freunde! Seid Ihr bereit, als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik mit uns gemeinsam, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet: Ja, das geloben wir!“
Dann wurde den Geweihten das Jugendweihe-Buch mit einem Weihespruch überreicht.Leider sind in der DDR auch viele Christen eingeknickt und haben sich für die Jugendweihe entschieden. Sie fürchteten um die berufliche Zukunft ihrer Kinder. Es war nicht so leicht, eine geeignete Lehrstelle zu bekommen, wenn man keine Jugendweihe vorweisen konnte. Einige Christen hinkten auf beiden Seiten. Sie nahmen an der Jugendweihe teil und ließen sich im folgenden Jahr nachkonfirmieren.
Es gab in der DDR drei Arten von Liebe: Die Liebe zwischen Mann und Frau; die Liebe zwischen Eltern und Kindern und die Liebe zur glorreichen Sowjetunion. Diese dritte Art von Liebe konnte in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gepflegt werden. Diese Freundschaft sollte nicht nur Lippenbekenntnis sondern auch Herzenssache sein. Nach dem Motto: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.
Tag der Bockwurst und der Schwarze Kanal
Der 1. Mai war nicht einfach ein Feiertag, sondern der „Internationale Kampf- und Feiertag der Werktätigen“. Höhepunkt war die Kampfdemonstration, die für viele ein Krampf war. Sie führte an der Tribüne vorbei, auf der sogenannte Ehrengäste saßen und winkten. Die Demonstration war ein freiwilliges „Muss“. Wir trafen uns im Betrieb und stärkten uns mit einer kostenlosen Bockwurst, die im Vorfeld als „Lukullische Mahlzeit“ angekündigt wurde. Des Weiteren lockte ein Bildband aus unserer Produktion als Geschenk. Dann ergriff der Parteisekretär des Betriebes das Wort: „Kollegen, es wird Zeit, dass wir uns formulieren!“ Das hat er wirklich so gesagt und keiner wusste, was er damit sagen wollte.
Wer nicht an der Mai-Demo teilnahm, musste sich rechtfertigen. Die Gewerkschaftsvorsitzende wollte den Grund wissen. Ich antwortete ihr: „Mir gefallen die Losungen nicht, hinter denen wir herlaufen müssen.“ Es kam zu einer nervigen Diskussion, die zu keinem Ergebnis führte. Für mich war das klar!
Der „Schwarze Kanal“ lief von März 1960 an fast 30 Jahre lang wöchentlich im DDR-Fernsehen. Der Moderator „Karl-Eduard von Schnitz…“ (wir schnitten immer rechtzeitig das Wort „Schnitzler“ währen der Vorankündigung ab) erklärte den DDR-Bürgern die westliche Welt vom „richtigen Klassenstandpunkt“ aus. „Schmuddel-Ede“, wie er von vielen genannt wurde, fand wohl vor allem im „Tal der Ahnungslosen“ (im Raum Dresden) Beachtung, wo man kein Westfernsehen mit ein paar Aluminiumstäben hinter der Gardine empfangen konnte.
„Trabant fahren – nur Fliegen ist schöner!“
1958 hatte ein kleines robustes Auto aus Zwickau auf der Leipziger Herbstmesse Premiere. Es wurde als „P 50“ entwickelt und später „Trabant“ getauft. In den darauffolgenden drei Jahrzehnten waren es mehr als drei Millionen „Trabis“, die in verschiedenen Variationen vom Fließband gerollt sind.
Manche nannten den „Trabi“ wegen seiner „Plaste“-Karosserie geringschätzig „Renn-Pappe“, andere respektvoll den „Volkswagen aus Sachsen“. Der Volksmund witzelte: „Autos aus Pappe brauchen Fahrer aus Stahl“. Auch für den Beifahrer war die Fahrt mit dem Trabant eine Tortur. Für den gelernten DDR-Bürger war die knallharte Blattfederung das kleinste Problem. An mancher Heckscheibe klebte der Spruch „Trabant fahren – nur Fliegen ist schöner!“. Vorausschauende DDR-Bürger bestellten gleich nach der Geburt eines Kindes einen Trabant, in der Hoffnung, nach 18 Jahren diesen bestellten Trabant dann auch kaufen zu können. Das war gegen Ende der DDR die übliche Wartezeit.
Auch ich war kurzzeitig Trabant-Besitzer. Das kam so: Bei uns im Betrieb wurden jedes Jahr Eintrittskarten für das Pressefest der Tageszeitung „Freie Presse“ verkauft. Diese Eintrittskarten waren gleichzeitig Lose für eine Tombola. Auf meine Eintrittskarte wurde ein „Trabant“ ausgelost. Unsere Kinder bestürmten uns, das Auto zu behalten. Weil ich aber weder einen Führerschein noch das nötige Interesse besaß, entschieden wir uns für die Inanspruchnahme des Bargeldes. In der Geschäftsstelle der „Freien Presse“ in Karl- Marx-Stadt freute man sich über unsere Entscheidung.
Wahlen zur Nationalen Front
Wenn politische Wahlen bevorstanden, konnte man überall lesen: „Wählt die Parteien der Nationalen Front!“ Ja welche denn sonst? Es gab doch nur diese Möglichkeit! Der Führungsanspruch der SED stand schließlich in der Verfassung. Somit war es keine demokratische Wahl, sondern ganz praktisch nur ein „Zettelfalten“. Der erste Wähler im Wahllokal bekam einen Blumenstrauß. Hausgemeinschaften wurden angehalten, gemeinsam zur Wahl zu gehen.
Es gab zwar im „Wahl“-Lokal eine Kabine, aber wer mochte sie schon betreten und dann verdächtige Geräusche mit dem Bleistift machen? Da faltete man doch lieber seinen Zettel öffentlich und warf ihn in die „Wahl“-Urne. Daher kam die Redensart „Faltengehen“. Spätestens zwei Stunden vor der Schließung der „Wahl“-Lokale wurden die „Wahlunwilligen“ mit der „fliegenden Wahlurne“ heimgesucht. Ich erinnere mich, wie meine kranke bettlägerische Mutter von zwei „Wahl“-Helfern aufgesucht und zum „Wählen“ genötigt wurde. Da sie nicht in der Lage war, den Zettel selbst zu falten, übernahm das einer der beiden Helfer für sie. Das Wahlergebnis lag bei jeder Wahl bei etwa 98 Prozent Zustimmung. So hieß es: Wahlurnen sind Behälter, in denen politische Hoffnungen bestattet werden.
Auch zu den „Wahlen“ gab es immer wieder Witze. „Ich gebe meine Stimme nicht ab!“ – „Aber warum denn nicht, Herr Fickel?“ – „Ich brauche sie noch, ich bin Sänger.“
Wohnungspolitik und „Plumpsklo“
Ein Problem in der DDR war die Wohnungsfrage. Alles ging über das Wohnungsamt. Egal, ob Alt- oder Neubau, ob private oder kommunale Wohnungen, ob Neubezug oder Wohnungstausch. Das Wohnungsamt hatte in jedem Fall das letzte Wort. Es gab Karteikarten, Tränen und Tricks. Dienstags und donnerstags war Sprechtag im Wohnungsamt, das eigentlich „Abteilung Wohnungspolitik“ hieß und zum Rat der Stadt oder der Gemeinde gehörte. Weil es in der DDR nie genug Wohnraum gab, tobten dort oft regelmäßig erbitterte Nervenschlachten zwischen verzweifelten Bürgern und überforderten Mitarbeitern.
Wir wohnten als junges Ehepaar in einem alten Haus, in einer Wohnung ohne Bad. Freitags holten wir die große Zinkwanne aus dem Keller und füllten sie mit Wasser, das wir auf dem Küchenherd erwärmt hatten. Unsere „Toilette“ befand sich auf dem Hinterhof. Wir mussten vom 1. Stock zur Haustür hinaus und quer über den Hof gehen. Dort war ein Holzverschlag, ein „Plumpsklo“ mit einer Tür, die nicht abgeschlossen werden konnte. Vor allem im Winter bei Minusgraden war das ein unvergessliches Erlebnis. Wenn nichts mehr half, dann schrieb der DDR-Bürger eine Eingabe an den örtlichen SED-Fürsten oder gleich nach Berlin. Ein probates Mittel war, wenn man drohte, der bevorstehenden Wahl fernzubleiben. Damit konnte man unter Umständen etwas erreichen.
Bis 1990 sollte jeder DDR-Bürger eine Wohnung bekommen, das hatte das Honeckersche Wohnungsbauprogramm von 1971 mit großem Parteitagsbrimborium versprochen. Es wurde dann wirklich gebaut. 1978 ließ sich Erich Honecker mit einer Marzahner Familie, die die einmillionste Wohnung bezogen hatte, beim Kaffeetrinken ablichten. Von den Unsummen, die das sog. Wohnungsbauprogramm verschlang, sprach man nur hinter vorgehaltener Hand. Wohnen in der DDR: extrasubventioniert. Weil aber billiges Brot und billiges Wohnen nicht angetastet werden durfte, schmetterte das SED-Politbüro jeden Veränderungsvorschlag besorgter Ökonomen ab. Dann musste in den Achtzigern doch heftig gespart werden. Die Zimmer in den Neubauwohnungen wurden kleiner, Fahrstühle gab es nur noch in Häusern, die mindestens sechs Etagen hatten. Immerhin wurde 1984 die zweimillionste Wohnung fertig, die Schlangen auf den Wohnungsämtern jedoch nicht viel kürzer. Noch in seiner Rede zum 40. Jahrestag der DDR träumte Honecker davon, dass die Wohnungsfrage bis Ende 1990 als soziales Problem gelöst werde.
Christen in der DDR
Christen in der DDR wurden benachteiligt und bedrängt. Jesus Christus hatte es ihnen ja angekündigt: „Haben sie mich verfolgt, werden sie euch auch verfolgen.“ Wobei das Wort „Verfolgung“ für die Situation der Christen in der DDR – im Vergleich zu anderen Ländern – nur in Härtefällen zutraf.
In der Gemeinde war man – mehr als heute – in geistlicher Hinsicht eines Sinnes. Man vertraute einander und half sich gegenseitig: „Tut Gutes an jedermann, zu allermeist aber an des Glaubens Genossen.“ Das fiel auch den Ungläubigen auf. Sie merkten: „Seht, wie haben sie einander so lieb!“ Es gab viele gemeinsame Unternehmungen: Busausfahrten, Bibelfreizeiten, Hauskreise und anderes.
Die größere Freiheit nach der „friedlichen Revolution“ hat mit sich gebracht, dass jeder seine eigenen Unternehmungen plant und durchführt. „Erst die Familie, dann die Gemeinde.“ Die vielen verschiedenen Möglichkeiten haben uns egoistischer und unabhängiger gemacht. „Wenn schönes Wetter ist, lassen wir den Besuch des Gottesdienstes eben mal weg und gehen spazieren und trinken Kaffee bei Tante Frieda. Gemeinschaft unter dem Wort Gottes können wir auch später haben.“
Ich bin nicht berufen was Großes zu sein,
schwach sind meine Kräfte, mein Arbeitsfeld klein.
Es ist nur ein Ecklein, meine irdische Welt,
dahin mich mein Meister zum Wirken gestellt.
(Missionswerk Friedensstimme)