Von Eugen Schmid
Dr. Anselm Grün, Benediktinermönch, geboren am 14. Januar 1945 in Junkershausen und in der Nähe von München aufgewachsen, ist Mitglied des Benediktinerordens und einer der bekanntesten Ordensleute im deutschsprachigen Raum. Er legte 1964 sein Abitur am Riemenschneider-Gymnasium in Würzburg ab und trat noch im selben Jahr ins Noviziat an der nahe gelegenen Benediktiner-Abtei Münsterschwarzach ein. Von 1965-1971 studierte er Philosophie und Theologie in St. Ottilien und an der benediktinischen Hochschule Sant’ Anselmo in Rom, von 1974-1976 Betriebswirtschaftslehre in Nürnberg. Als Klosterverwalter (Cellerar) lenkte er 36 Jahre lang die wirtschaftlichen Belange des Klosters Münsterschwarzach. Er leitet auch eine Einrichtung, in der Geistliche eine Hilfe und seelischpsychologische Betreuung bekommen.
Ein Star auf dem religiösen Büchermarkt
Anselm Grün ist ein Star auf dem religiösen Büchermarkt. Bis heute hat er 300 Bücher veröffentlicht mit einer Gesamtauflage von 14 Millionen und Übersetzungen in 18 Sprachen. Allein das im Jahr 1997 veröffentlichte Buch „50 Engel für das Jahr“ wurde bis 2010 in 36 Auflagen verkauft. Das ganze Jahr hindurch hält er Vorträge. In Lateinamerika sprach er schon vor 20.000 Menschen. Auch in Deutschland sind die Kirchen bei seinen Auftritten gut besucht. Welche Botschaft hat Anselm Grün? Warum kommt sein Denken bei evangelischen, katholischen und sogar freikirchlichen Christen so gut an? Was fasziniert auch esoterisch ausgerichtete Menschen an seiner Botschaft? Wie analysiert Grün christliches und religiöses Leben? Welche Probleme zeigt er auf? Welche Problemlösungen bietet er an? Welche Antworten hat er auf die Entfremdungen des modernen Lebens?
Mensch soll auf seine eigenen Bedürfnisse achten
Heute kann allgemein beobachtet werden, dass der Mensch von der Kirche, der Gesellschaft und letztlich auch von sich selbst zu sehr in Anspruch genommen wird. Die Menschen überfordern sich und Stress ist die Folge. Tatsächlich, so scheint es, ist es kaum möglich, den Anforderungen des modernen Lebens zu genügen. Ein zufriedenes und sinnvolles Leben kann heute nur schwerlich geführt werden. Christen sind häufig durch mannigfache Aufgaben in ihren Gemeinden und Familien überlastet. Unzufriedenheit und der Verlust an Lebensfreude sind die Folge. Im schlimmsten Fall führt das zum Rückzug aus den Gemeinschaften und in die Isolation.
Dies alles geschieht paradoxerweise in einer „Wohlfühlgesellschaft“. Die Menschen erwarten vom Leben nicht nur Ausgeglichenheit, sondern gar Glück. Aufgrund dieses Widerspruchs werden Probleme nicht angepackt, sondern beiseite geschoben. Dabei stehen die Ansprüche überall im Raum: in der Herkunftsfamilie, in der Ehe, in den Partnerschaften und in den Gemeinden. Brechen die Widersprüche aber auf, sind die anderen schuld. Die Folge von allem: Das Leben wird ganz unübersichtlich und kompliziert. Grüns Antwort lautet daher: einfacher leben. Auf den Punkt gebracht schlägt Grün vor: Man soll die Ansprüche an andere Menschen, die „Außenwelt“ reduzieren und sich auf seine eigenen Bedürfnisse konzentrieren. Das Leben sollte wieder einfacher und überschaubarer werden. Es gelte jetzt zu lernen, zu sich selbst zu stehen und auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten.
Aufatmen und sich fallen lassen
In einer Ankündigung zu einem Vortrag formuliert Grün pointiert:
„Einfach leben: das ist mehr als Zeitmanagement. Es heißt: bewusster und achtsamer sein – und den Reichtum des Lebens entdecken. Das Leben nicht nur ‚meistern’ und bewältigen, sondern dem Leben Raum geben. Einfach leben meint: nicht nur seine Arbeit gut organisieren, sondern das, was wir tun, mit Sinn füllen. Aus guten Quellen schöpfen und positive Energien freimachen.“
Hier wird deutlich: Der Mensch soll aufatmen können und wieder lernen, sich Raum zu geben. Zur Ruhe zu kommen, ist die große Verheißung für den von Terminen gejagten Menschen. Sich fallen lassen, auf sich selber zu schauen und zur Besinnung zu kommen – danach sehnen sich die heutigen Menschen und das sind die Themen von Anselm Grün.
Anselm Grüns Bücher sind vor allem deshalb attraktiv, weil sie lebenspraktisch sind. Es geht ihm zunächst nicht um christliche Belehrung, erst recht nicht um eine traditionelle christliche Lehre. Insofern steht die Erfahrung im Mittelpunkt, in der es auf das konkrete Erlebnis einer spirituellen Erfahrung ankommt.
Die biblische Botschaft wird psychologisiert
So bekommen bei Grün neben dem Begriff der Erlösung auch andere zentrale Begriffe des Evangeliums wie Liebe, Sünde, Vergebung und Schuld eine neue Bedeutung. Diese neuen Interpretationen entwickelt er beispielsweise in seinen Büchern „Erlösung“, „Tiefenpsychologische Bibelauslegung“ und „Zerrissenheit“. Allen Büchern Grüns liegen neue und „transformierte“ weltanschauliche und theologische Denkmuster zugrunde.
Die Aussagen der Bibel werden von ihm samt und sonders auf den Menschen bezogen und somit psychologisch interpretiert. Er psychologisiert die christliche Botschaft und führt das Evangelium von der biblischen Erlösung hin zur Psychotherapie.
Anselm Grün ist einer der einflussreichsten Autoren in der religiösen Szene. Als Benediktinermönch liegen seine Wurzeln zwar im katholischen Glauben, doch schon während seiner Ausbildung und im Kloster suchte er nach weiteren spirituellen Quellen. Mit einer Gruppe gleichgesinnter Glaubensbrüder entdeckte er Graf Dürckheim und dessen Gemeinschaft in Todtmoos-Rütte (Schwarzwald), der eine für ihre Zwecke interessante Spiritualität anzubieten hatte. Dessen Spiritualität verbindet Elemente des Zen-Buddhismus, der Tiefenpsychologie C. G. Jungs und des Christentums. Meditation, asiatische Kampfkunstarten, Körper- und Kunsttherapie wurden von Dürckheim als Methoden eingeführt. Der Mensch wird auf einen psychologischspirituellen Weg geführt.
Zur diesjährigen Buchmesse in Leipzig wurde das von mir geschriebene Buch mit dem Titel „Die Theologie von Anselm Grün – zwischen Psychologie und Spiritualität“ (siehe Werbung) vom Lichtzeichen Verlag vorgestellt. Das Buch hinterfragt Grüns Lebensberatungskonzept und seine weltanschaulichen, psychologischen und theologischen Voraussetzungen.
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Erstveröffentlichung: Brennpunkt Weltanschauung 1/2014