„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ Matthäus 7,1
Wohl jeder kennt das zum Sprichwort gewordene Bild Jesu aus der Bergpredigt. Da will jemand seinen Mitmenschen auf einen Splitter in dessen Auge aufmerksam machen, ohne zu bemerken, dass in seinem eigenen Auge ein Balken steckt. Über dieses groteske Bild mussten die damaligen Zuhörer Jesu wahrscheinlich unwillkürlich lächeln. Wobei es natürlich vollkommen unmöglich ist, mit einem Balken im Auge überhaupt noch irgendetwas zu sehen, geschweige denn einem anderen bei einer diffizilen Augenoperation zu helfen. Wie blind können wir Menschen gelegentlich gegenüber unserem eigenen Versagen sein.
Allerdings wird Jesu Warnung vor dem Richten zumeist von den falschen Leuten für eigene Zwecke instrumentalisiert. Da hat einer bei der Steuer betrogen oder gibt sich regelmäßigen Alkohol -Exzessen hin. Wenn er aber in der Gemeinde oder dem Freundeskreis daraufhin angesprochen wird, erinnert er an das vermeidlich biblische Verbot des Richtens. Als billigen Schutzraum für falsches Verhalten hat Jesus seine Worte aber nicht gemeint. Das wäre auch schon seltsam, da Jesus doch in seiner ganzen Bergpredigt das Verhalten anderer Menschen beurteilt: Sammele keine Schätze auf Erden! Wer sich zu sehr um die Alltagsdinge sorgt ist ein Kleingläubiger! Wer einer Frau mit falschen Gedanken nachschaut hat mit ihr gedanklich schon die Ehe gebrochen! usw. Jesus beurteilt das Verhalten von uns Menschen – und das ist auch gut so. Hier weist uns jemand offen und in Liebe auf unsere Fehler und Schwachpunkte hin, die wir selbst gerne übersehen oder entschuldigen. Doch zum Glück bleibt Jesus nicht dabei stehen, sondern bietet uns seine Hilfe zur grundlegenden Lebensveränderung an. „Richtet nicht!“ darf nicht verstanden werden als: „Sprecht keine Fehler eurer Mitmenschen an!“ Es ist durchaus notwendig Versagen anzusprechen, um weiteren Schaden zu verhindern und Veränderung zu ermöglichen. Das ist sogar direkter Auftrag Jesu: „Wenn die Bruder an dir gesündigt hat, so gehe hin und weise ihn zurecht unter vier Augen.“ (Mt 18,15)
Entscheidend aber ist, nach welchem Maßstab ich das Verhalten eines anderen Menschen beurteile. Kritisiere ich den anderen, weil er nicht meinen Musikgeschmack teilt, oder den Gottesdienst lieber abends als morgens hätte, dann orientiere ich mich nicht mehr nach Gottes Regeln, sondern erhebe meine Meinung als Verpflichtung für alle anderen. Das ist nicht im Sinne Jesu. Hier gilt: „Kümmere dich erst einmal um deine eigenen Fehler.“ Natürlich verbietet Jesus damit keine Meinungsäußerung. Wir sollten aber deutlich zwischen dem unterscheiden, was Gott von uns und allen anderen Menschen fordert und dem, was wir, nach unseren eigenen Meinungen und Wünschen kritisieren. Menschen darauf aufmerksam zu machen, wo sie offensichtlich von Gottes guten Regeln abweichen ist immer wieder nötig, wenn es in Liebe geschieht. Andere Menschen unter Druck zu setzen oder anzugreifen, weil sie nicht so leben wie wir leben, nicht unseren Geschmack teilen oder eine andere Persönlichkeit haben, dass ist schädlich für die Gemeinschaft, für den Angegriffenen und auch für den Kritiker. Da gilt: „Räume erst einmal bei Dir auf!“ und denke daran, dass Gott in der Beurteilung Deines Lebens den gleichen strengen Maßstab anlegen wird, nach dem du andere beurteilst.
Kluge Leser könnten nun auf den Gedanken kommen: „Lieber beurteile ich alles sehr großzügig, dann kann mit im Gericht Gottes auch nichts geschehen!“ Auch das ist ein Irrtum, denn Gottes Regeln haben auch für unser Leben absolute Gültigkeit, ganz gleich, ob wir sie von anderen Menschen einfordern oder nicht. „Richtet nicht – nach euren eigenen Maßstäben! Aber erinnert andere an die guten Regeln Gottes!“
Michael Kotsch