AG Welt e.V.

Lasst unser Grundrecht in Frieden!

von Samuel Janzen

Der erste Blick aus Richtung Siegessäule auf das Brandenburger Tor wirkt ernüchternd: Auf der Straße „Unter den Linden“ ist in weiter Ferne eine Menschenmasse zu erkennen. Scheinbar nicht wirklich viele Demo-Besucher zum offiziellen angekündigten Demo-Start. Trotzdem macht sich unsere Gruppe auf den Weg in Richtung Demonstrationsfläche. Mit knapp über 40 Personen sind wir aus Lippe angereist, haben uns unterwegs über das allgegenwärtige Thema der Corona-Politik und den unverhältnismäßigen Maßnahmen als Antwort der Bundesregierung ausgetauscht. Die Stimmung in der Gruppe ist gut, wenn auch gespannt auf das, was uns in Berlin erwartet. Nach der unklaren Kommunikation von verschiedenen Demo-Anmeldern, wechselnden Ansprechpartnern und kurzfristigen Absagen seitens der Berliner Polizei ist es schwierig einzuschätzen, was passieren wird und womit zu rechnen ist. Der Vorschlag mindestens in Zweierteams unterwegs zu sein, wird dankbar angenommen und so organisieren sich kleinere Gruppen unserer Busreisegruppe um während der Demonstrationszeit aufeinander Acht zu geben…

Gandhi stimmt ein

Auf dem Gelände angekommen fällt uns ein großer LKW mit einem Zitat und Porträt Gandhis als erstes ins Auge. Auf der darauf aufgebauten Bühne geben zwei junge Männer Tipps weiter, wie lokal effektive Demonstrationen organisierbar sind und berichten über wirksame Demo-Maßnahmen in ihrer Heimatstadt. Vor der Bühne scheinen sich größtenteils alternativ orientierte Menschen aufzuhalten, immer wieder riecht es nach Weihrauch, Tabak und Marihuana. Wir bewegen uns weiter Richtung Brandenburger Tor, das Bild wird vielfältiger, die Menschen stehen immer dichter beieinander. Abstandsregelung und Maskenpflicht scheint hier die wenigsten zu kümmern. Stattdessen herrscht eine eher entspannte Atmosphäre, Musiker singen ihre Lieder, Menschen tauschen sich aus, sitzen in kleineren Gruppen zusammen, einzelne Gruppen propagieren ihre religiösen oder esoterischen Ansichten und verteilen Bücher, wieder andere gehen in der Gegend herum.

AfD, Israel und Enkelkinder

Näher am Brandenburger Tor wird die Menge noch dichter: Zwei AfD-Fahnen stehen in Nähe einer größeren Menschengruppe, die das Geschehen Richtung Reichstag aus einigem Abstand verfolgen. Nicht weit entfernt fallen uns eine ganze Reihe von Strafgefangenen-Plakaten auf: Spahn, Merkel, Lauterbach, Drosten und Co. in Strafgefangenenkluft sind darauf mit dem Spruch „Schuldig“ zu sehen. Generell ist das Publikum sehr divers: Ich unterhalte mich kurz mit einer älteren Dame, sie ist nicht einverstanden mit der Bevormundung durch die Bundesregierung und steht hier für ihre Kinder und Enkelkinder. Ein Mann Mitte 40 animiert die Menge und propagiert: „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“. Etwas weiter vorne wird eine große Israelflagge geschwenkt.

Ist jetzt schon Schluss?

Ich bewege mich in Richtung Reichstag, das Durchkommen stellt sich als schwierig heraus, die Menschen stehen dicht an dicht. Freundlich machen mir die unterschiedlichsten Mitbürger Platz auf mein Bitten auf meinem Weg nach vorn. Auch hier, direkt vor der Linie von Polizeibeamten stehen Jung und Alt, Männer und Frauen dicht beieinander und skandieren in Richtung Polizei: „Schließt euch an, schließt euch an!“. Ich spreche die Polizei an, ob die Möglichkeit besteht, über ein Absperrgitter zu klettern um bessere Videoaufnahmen machen zu können. Der junge Polizeibeamte verneint aber bleibt freundlich. Es gibt eine Durchsage von der Polizei, dass die Demonstration aufgrund von Nichteinhalten der Coronaschutzmaßnahmen als beendet erklärt ist. Die Teilnehmer werden aufgefordert das Gelände zu verlassen. Die nachfolgenden Ansagen der Polizei gehen in den Buh-Rufen der Demonstranten unter. Auf meine Nachfrage die Auflösungsansage zu begründen, antwortet mir ein anderer Polizist streng mit der bereits über die Lautsprecher verkündeten Information und dem in den Rufen der Demonstranten untergegangenen Hinweis, dass die Versammlung notfalls durch die Polizei aufgelöst werde.

Kunstregen im November

Mittlerweile sind zwei Wasserwerfer-Einsatzwagen bis hinter die Kette aus Polizeibeamten vorgerückt. Das Zurückdrängen der Menge von circa 30.000 Menschen ist der Polizei bisher nicht geglückt: Zu viele dichtgedrängte Demonstranten stehen ihnen gegenüber. Relativ kurzfristig beginnt die Polizei mit der „Beregnung“, wie es in den Tagesthemen der ARD genannt wird. Gerade vorne in den ersten Reihen bekommen die Demonstranten jedoch immer wieder den direkten Strahl des Wasserwerfers ab. Ich bin überrascht über die Menge an Wasser, die sich über mich ergießt während ich in Eile damit beschäftigt bin, meine Regenjacke aus dem Rucksack zu ziehen. Es dauert nur wenige Sekunden und eine Vielzahl der Bürger in Reichweite der Wasserwerfer sind nass bis auf die Haut. Und das im November. Eine Gruppe bestehend aus vier Rentnern wird von einem jüngeren Mann zwischen Polizei und Demonstranten aus dem zentralen Geschehen herausgeführt. Vorn, der Polizeikette gegenüber sammeln sich mehr und mehr junge Männer aber auch erstaunlich viele Frauen. Klitschnass trotzen sie dem Wasserwerfer. Eine größere Gruppe hat sich unter einer Folie versteckt und beginnt zu singen „Oh, wie ist das schön, oh wie ist das schön, sowas hat man lange nicht gesehn, so schön, so schön!“ während der Wasserwerfer tausende Liter Wasser auf die Demonstranten spritzt. Die Menge stimmt ein.

Achtung, Pfefferspray!

Vereinzelt ist zu beobachten, wie Demonstranten den offenen Konfikt mit der Polizeikette suchen, indem sie versuchen Boden gut zu machen und die Kette zurückzudrängen. Die Beamten agieren teilweise mit rigoroser Härte, die Schlagstöcke kommen vermehrt zum Einsatz, es kommt zu Verhaftungen. Immer mehr Demonstranten kommen mit geröteten und tränenden Augen zurückgelaufen, die Polizei setzt Pfefferspray gegen widerspenstige Demonstranten ein. Dabei sprühen sie teilweise wahllos auf die Leute ein. Etwas weiter hinten hilft eine Dame einem Pfefferspray-Opfer und spült ihm mit Mineralwasser die Augen aus. Nach ca. 5 Minuten kann dieser die Augen wieder öffnen und bedankt sich herzlich für die Hilfe. Es ist immer wieder zu sehen, wie freundlich die Demonstranten miteinander umgehen. Es herrscht untereinander eine große Solidarität. Ich sehe zwei weitere Passanten die Opfer des Pfefferspray-Einsatzes wurden, frage wie schmerzhaft es ist. Sie meinen, dass es sehr weh tue, aber nach etwa 10 Minuten erträglich wird. Ihre Gesichter sind noch immer rot und geschwollen.

Polizeihunde und Wasserwerfer

Die Polizei macht langsam Fortschritte. Nach und nach wird die Menge zurückgedrängt. Die Wasserwerfer-Einsatzwagen fahren regelmäßig zurück Richtung Reichstag um aufgetankt zu werden. Wieviele Wagenfüllungen über der Menge ausgeleert werden ist schwer zu sagen, doch es sind viele Male, die die Wagen abwechselnd zum Auftanken zurückfahren. Ein Mann sagt mir, dass ein Wagen mit 14.000 Litern betankt wird. Zur Pause der Bundestagssitzung sind drei Personen auf dem Balkon des Reichstages auszumachen. Sie blicken in Richtung Menge, machen sich einige Minuten lang ein Bild vom Geschehen, bevor sie wieder im Gebäude verschwinden.

Nach einigen Stunden beginnt die Polizei, die Menschen auch auf der Straße „Unter den Linden“ mit Hilfe zweier Wasserwerfer, einer Polizeikette und einigen Polizeihunden zurückzudrängen. Es kommt immer wieder zu unschönen Szenen. Vor mir wird ein Mann auf dem Bürgersteig von zwei Polizeihunden angesprungen, direkt danach schubst ein Polizist den Mann energisch zurück. Der Mann beschwert sich lautstark, droht den Beamten mit Anzeige und notiert sich ihre Dienstnummern. Die Polizisten reagieren verunsichert und verärgert, lassen aber von ihm ab und setzen ihren Weg weiter fort Richtung Brandenburger Tor.

Gespräch im Döner-Imbiss

Gegen 16.30 Uhr ist der Großteil des Platzes des 18. Juni geräumt, Unter den Linden ist ebenfalls größtenteils menschenleer. Viele der Demonstranten haben sich in den angrenzenden Park zurückgezogen, es ist zu beobachten, dass kleinere Demogruppen ihren Weg auf unterschiedlichen Wegen fortsetzen. Gemeinsam mit einem Freund mache ich mich auf den Weg um etwas Warmes zu essen und uns womöglich etwas aufzuwärmen. Wir finden einen netten Döner-Imbiss, dicht gedrängt stehen wir mit anderen Demo-Teilnehmern im Laden und warten auf unser Essen. Mittlerweile ist die Abstimmung im Bundestag ausgezählt. Unter den Anwesenden macht sich Ernüchterung breit. Ich komme mit einem jungen Vater ins Gespräch: Seine Sorgen stehen ihm ins Gesicht geschrieben: Wie soll es weitergehen? Er äußert seine Angst vor der Impfpflicht und spricht von seiner Entschlossenheit, seine beiden Söhne um jeden Preis zu schützen. Doch wie ihm das gelingen soll, darauf hat er noch keine Antwort. Als ich an seinen Sorgen Anteil nehme und ihm davon erzähle, dass mich ähnliche Gedanken im Bezug auf meine vier Kinder beschäftigen blickt er interessiert auf. Auf meine Aussage, dass mir das Wissen Frieden gibt, dass Gott uns in seiner Hand hält, antwortet er: „Ich wünschte, dass könnte ich auch sagen!“.

Fast Feierabend

Mit einer kleinen Gruppe von neuen Bekannten machen wir uns auf den Weg Richtung Schloss Bellevue. Per SMS haben wir erfahren, dass dort weiter demonstriert wird. Als wir um etwa 18:30 Uhr dort eintreffen, hat die Polizei auch hier mit der Räumung begonnen. Es dauert etwa eine halbe Stunde, bis auch auf dieser Fläche Ruhe einkehrt.

Nicht weit davon entfernt, an der Siegessäule warten wir gemeinsam auf unseren Busfahrer. Einige der Mitstreiter wirken müde, andere diskutieren noch engagiert über Möglichkeiten, mit dem Protest fortzusetzen. Als wir endlich im Bus sitzen kehrt Ruhe ein. Einzelne informieren sich mit ihre Smartphones über die Geschehnisse des Tages und versuchen zu verarbeiten, was heute passierte. 

Große Sorgen um Morgen

Mich persönlich bewegte es zu sehen, wie viele Menschen gemeinsam für ihr Recht einstanden. Gleichzeitig fiel mir aber auch auf, dass die Angst vor weiteren Repressalien, vor der Ungewissheit der Zukunft und der weiteren Einschränkung der Grundrechte ihre Spuren in unserer Gesellschaft hinterlässt. Oftmals orientierungslos oder antwortsuchend führt diese Angst zu Aggression oder Verzweiflung, wieder andere suchen ihr Heil in esoterischen Bewegungen oder diversen Weltanschauungstheorien. Gerade in dieser Zeit sind wir als Christen gefordert: Nicht unbedingt darin, Antworten auf die Geschehnisse zu liefern sondern vielmehr darin, Hoffnung zu machen. Frieden zu verkünden. Menschen mit einem guten Wort zur rechten Zeit zur Seite zu stehen und Nächstenliebe praktisch werden zu lassen. Dieser Auftrag ist groß und wichtig, gerade in unserer bewegten Zeit.

Es ist an der Zeit, uns Zeit zu nehmen.
Gott zu vertrauen, er schuf das Leben.

Zeit, um Hoffnung und Liebe zu geben,
Orientierung und Richtung, anderen zum Segen.

Wir setzen unsere Hoffnung auf den, der uns frei von Schuld machte,
auf Christus, der Frieden und Gewissheit in unser Herz brachte.

Ist die Zukunft auch ungewiss wie ein Nebel in der Ferne,
möge Gott uns gebrauchen, wie im Dunkeln eine Laterne.

Der HERR ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter. Gott ist mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils, mein Schutz und meine Zuflucht, mein Heiland, der du mir hilfst vor Gewalt. (Die Bibel – 2. Samuel 22,2+3)


Samuel Janzen ist glücklich verheiratet, Vater von 4 Kindern und seid mehreren Jahren politisch interessiert und engagiert. Beruflich als technischer Leiter im Bereich Webentwicklung tätig, freut er sich im Ehrenamt regelmäßig mit den Pfadfindern unterwegs zu sein.

Photos: Johannes Dirksen, Samuel Janzen
Die mobile Version verlassen