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„Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Die (christliche) Freiheit – zwischen Wahn und Abhängigkeit

Quelle: bibelundbekenntnis.de

von Martin P. Grünholz

Wenn man in die unzählige Literatur hineinschaut, die anlässlich des Reformationsjubiläums geschrieben wurde, sowie die vielen Veranstaltungen, die durchgeführt wurden oder noch werden, begegnet einem Luther in jeglichem Anstrich: mal als Freiheitskämpfer, als Sozialreformer, als Rebell und Widerstandskämpfer, dann als Aufklärer und Wegbereiter der Neuzeit. Wie so häufig bei solchen Jubiläen muss die historische Person mehr für die Ideale der jeweiligen Autoren und der zeitgeistlichen Strömungen herhalten, als dass wirklich das eigene Profil und Anliegen des zu Gedenkenden beachtet wird.

Häufig zitiert und sogar in Form einer „Luthersocke“ verarbeitet[1] wird dabei der Spruch: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Er dient als Beleg für Luthers Standhaftigkeit, sein Eintreten für die Freiheit und dass er sich auch im Angesicht von Kaiser Karl V. auf dem Reichstag in Worms am 18. April 1521 nicht von äußerlichen Autoritäten beeindrucken lässt, sondern sich gegen sie behauptet. Luther wird zum Rebell, zum selbstbewussten, aufgeklärten Freidenker hochstilisiert, der gegen die Mächtigen dieser Welt furchtlos eintritt und sich nicht unterwirft. Dass Luther diesen Satz mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht gesagt hat, wird dabei leicht übersehen und passt auch nicht ins Bild.[2] Ebenso gilt es auch für seinen vermeintlichen Satz: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“[3]

Was von Luther 500 Jahre nach seinem Thesenanschlag am 31. Oktober an die Schlosskirche von Wittenberg noch übrigbleibt und gefeiert wird, ist das, was ins heutige Bild passt und dem Anliegen des 21. Jahrhunderts entspricht. Auf besonders abwegige Weise tat dies eine ARD-Dokumentarfilm-Produktion, die am 11. April 2017 im Fernsehen zu sehen war: „Die Luther Matrix“.[4] Hier wurde versucht, die Reformationsgeschichte mit der Gegenwart zu verbinden, indem aus Martin Luther ein „Whistleblower“, ein Geheimnisverräter oder Enthüller, wurde, ähnlich wie Eduard Snowden oder Brandon Bryant. Die ARD verstieg sich dann zur folgenden Schlussrede der Luther-Karikatur: „Mein gnädiger Gott heißt Freiheit. Und mein Christentum ist die Demokratie. Und mein Evangelium – das ist das Grundgesetz.“[5]

Luther war keineswegs ein Freiheitskämpfer, der für politische und religiöse Unabhängigkeit gekämpft hat, wie er so gerne heute gesehen wird. Das Freiheitsideal, oder besser gesagt: der Freiheitswahn, der modernen westlichen Gesellschaften teilte Luther keineswegs. Eine seiner berühmtesten Schriften mit dem Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahre 1520 begann er mit der Aussage: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Dieser Satz wird gern zitiert und als Beleg für seinen Freiheitskampf angeführt. Doch zugleich schob Luther im Folgesatz (!), nämlich als direkten Anschluss und bewusst in diesem Doppelsinn zu verstehen hinterher: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“[6] Die Frage, die wir uns nun stellen müssen ist: Worin besteht die christliche Freiheit? Wo erliegen wir einem (Freiheits-)Wahn, wovon sollten wir uns befreien und wo unsere Abhängigkeit und Gebundenheit bewusst anerkennen?

Kehren wir zu Luthers Rede vor dem Reichstag in Worms zurück. In seiner (auch ohne die übertriebene Formel) eindrücklichen Schlussrede fasst Luther die christliche Freiheit so zusammen: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die von mir angeführten Stellen der Heiligen Schrift überwunden, und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.“[7] Der lutherische Professor für Theologie aus Tübingen, Karl Heim, sagte in seiner Vorlesung 1924 vor seinen Studenten hierzu: In dieser Antwort „sind alle Grundelemente des Protestantismus ausgesprochen: Die Geistesklarheit, das Wort und das Gewissen.“[8]

Luther ging es keineswegs um eine egoistische Selbstbehauptung im Angesicht der weltlichen und kirchlichen Autoritäten seiner Zeit. Wer sich mit dem Verlauf ausführlich beschäftigt, wird dies sehr deutlich erkennen.[9] Ebenso ging es ihm auch nicht um einen überspitzten Individualismus, der sich nicht belehren lässt und unabhängig sein möchte. In seiner ausführlichen Antwort in Worms verwies Luther auf den Prozess Christi vor dem Hohen Rat und forderte Schriftbeweise, durch die er widerlegt werden würde. „Luther erklärte sich sofort bereit, jeden Irrtum zu widerrufen, nachdem er belehrt worden sei, und als erster seine Bücher selbst zu verbrennen.“[10] Darin bestand für ihn die christliche Freiheit und zugleich die christliche Abhängigkeit: Nämlich frei von jeglichen menschlichen Autoritäten, sei es der Papst, das kirchliche Lehramt, staatliche Vorgaben, sei es in heutiger Sicht Bischöfe, Synoden, Pastoren oder Älteste. Denn für Luther stand fest, dass Menschen immer irren können und sich durch die Sünde und Versuchungen verführen lassen: Freiheit von irdischen Autoritäten, doch umso mehr die Abhängigkeit und die Gebundenheit an die göttliche Autorität! Aus diesem Grund kämpfte Luther so entschieden für den Schriftbeweis. Nur was die Heilige Schrift, Gottes eigenes Wort, klar und verständlich uns lehre, daran ist unser Gewissen gebunden.

In dieser Hinsicht lehrte und kämpfte Luther für die Freiheit, nämlich für eine Gewissensfreiheit, die sich allein vor Gott selbst verantworten muss. So verstand es auch Paulus in 1.Korinther 11,28, dass der Mensch sich selbst im Angesicht Gottes prüfen müsse, bevor er zum Tisch des Herrn kommen durfte. Nicht eine Unterordnung unter menschliche Autorität, sondern die volle Abhängigkeit und Bindung an Gott und sein Wort.

Dies fordert von den Gläubigen zu allen Zeiten aber persönlichen Einsatz, denn es ist viel einfacher, wenn ich mich als „einfaches Gemeindemitglied“ an die Ordnungen und Sitten meiner örtlichen Gemeinde halte. Luther übersetzte aber deshalb die Bibel in die deutsche Sprache, damit alle Christen den Zugang zum Wort Gottes hatten, um dadurch selbst Verantwortung übernehmen zu können und an Gottes Wort ihr eigenes Leben und die Lehre der örtlichen Gemeinde zu überprüfen. Er kämpfte für mündige Christen, die sich nicht blind unterordnen, sondern in Abhängigkeit von Gottes Wort ein verantwortliches Christsein leben. Deshalb war Luther auch davon überzeugt, dass es eine Lehre Satans sei, dass zum Verständnis der heiligen Schrift die Auslegung und Kommentare von Menschen oder Institutionen notwendig sind. Er hält dagegen fest: „Das heißt, dass sie [die Schrift] durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allem prüfend, richtend und erleuchtend.“[11]

Von Luther zu lernen bedeutet in diesem Sinne, sich nicht blind in die örtlichen Gegebenheiten einzufügen und auch nicht Lehren von Kirchen, Gemeinden und staatlichen Autoritäten, seien es noch so akzeptierte und respektable Persönlichkeiten, zu unterwerfen, sondern ein verantwortliches, mündiges Christ-Sein zu leben. Diese Verantwortung des eigenen Gewissens vor Gott, das in der Schrift forscht, sie studiert und täglich mit ihr umgeht, und das Gelesene mit Gott im Gebet bespricht und um Antworten und Führung in seinem Leben mit Gott ringt, diese Verantwortung können wir nicht delegieren, sondern bleibt Inbegriff der christlichen Nachfolge. Sie bildet zugleich die christliche Freiheit und den christlichen Anspruch an das Leben eines Gläubigen. Statt „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ wäre für Luther aussagekräftiger: „Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort.“ Das sollte unser Maßstab sein, hier sollten wir vom Reformator lernen und uns in rechter Weise von Menschen lösen und an die Heilige Schrift binden.
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01.08.2017
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Martin P. Grünholz ist leitender Gemeinschaftspastor der AB Gemeinde Steinen, die zum Evangelischen Gemeinschaftsverband AB gehört. Daneben promoviert er an der theologischen Fakultät der Universität Fribourg / Schweiz im Bereich Dogmatik. Er ist Mitglied der Fortsetzungsgruppe des Netzwerkes Bibel und Bekenntnis.
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Der Artikel erschien zuerst im Magazin Mitternachtsruf, Ausgabe 08.2017
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[1] http://www.luthersocke.de/

[2] In der Weimarer Ausgabe (WA), wo alle Schriften von Luther gesammelt sind, ist er zwar aufgenommen (WA 7, 838, 9) doch zugleich mit dem Zusatz „vielumstrittene Worte“ markiert. In den ersten Druckausgaben findet sich dieser Schluss nicht, sondern taucht er erst in späteren Ausgaben auf, vermutlich als Zusatz, um die Sensationslust zu befriedigen, vgl. http://www.luther.de/legenden/ws.html.

[3] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/stammt-der-spruch-ueber-den-apfelbaum-gar-nicht-von-luther-14967938.html.

[4] http://mediathek.daserste.de/Reportage-Dokumentation/Die-Luther-Matrix/Video?bcastId=799280&documentId=42098510.

[5] Filmminute 88. Zur vernichtenden Filmkritik sei auf folgenden FAZ Artikel verwiesen: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-luther-matrix-hat-das-zeug-zum-trash-kult-14966320.html.

[6] Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 21, 1-4.

[7] Das Original findet sich in lateinischer Sprache unter WA 7, 838, 4–8.

[8] Karl Heim, Das Wesen des evangelischen Christentums, 51929, S. 64.

[9] Verwiesen sei hierzu auf die Lutherbiografie von Martin Brecht, Band 1: Sein Weg zu Reformation 1483–1521, S. 413–453.

[10] A.a.O., S. 437.

[11] Luther, Luther, Assertio, S. 80. Zitiert nach der Lateinisch-Deutschen Studienausgabe Band 1, der Mensch vor Gott. Herausgegeben von Michael Beyer und Wilfried Härle, Leipzig 2006, S. 71–217.

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