Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat mit einer im Juni veröffentlichten sogenannten „Orientierungshilfe“ Ehe und Familie neu definiert.
Familie sei ein „alltäglicher Lebenszusammenhang und Lernort der verschiedenen Generationen“, in denen Familienmitglieder „auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Fürsorgebeziehungen miteinander“ eingingen. Darin würden sich Kinder vorfinden, „noch ehe sie darüber nachdenken“ könnten. Dabei habe das „Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren.“
Der EKD geht es um ein „familiales Zusammengehörigkeitsgefühl“
In dem 162 Seiten umfassenden Papier heißt es wörtlich auf Seite 22:
„Familie – das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung. Die Menschen, die wir zur Familie zählen, leben nicht unbedingt gemeinsam unter einer Adresse – das heißt aber nicht, dass es nicht liebevolle Zuwendung, vielfältigen Austausch, Unterstützung, Hilfeleistung, Gespräche, kurz: familiales Zusammengehörigkeitsgefühl gibt.“
EKD beruft sich in Orientierungshilfe auf Martin Luther
In Deutschland zähle man „ca. 70.000“ gleichgeschlechtliche Paare, die in einem Haushalt lebten, darin sei „ein Viertel“ (etwa 17.500) „eine eingetragene Lebenspartnerschaft“. Man schätze „7.000 Kinder“ in „sogenannten Regenbogenfamilien“.
Das EKD-Papier beruft sich in der Neuausrichtung des Ehe- und Familienbegriffes auf Martin Luther. Er habe die Ehe „zum weltlich Ding erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden“ müsse. Nach evangelischen Verständnis sei die Ehe „kein Sakrament und … keine absolut gesetzte Ordnung…“. Daraus erwachse „eine große Freiheit im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, die angesichts der Herausforderungen der eigenen Zeit immer wieder neu bedacht und oft auch erst errungen werden“ müsse. Dies zeige sich „im Umgang mit Scheidungen und Geschiedenen genauso wie mit Alleinerziehenden oder auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren“, so die EKD. So hätten „gesellschaftliche Emanzipations-prozesse… die Ordnungen von Ehe und Familie ebenso verändert wie Geschlechterrollen, Beziehungen und Konventionen.“
Wie man die Bibel liest oder: die Grundüberzeugung der EKD
Lese man die Bibel von der „Grundüberzeugung“ her, dass sie den Menschen von Anfang an als Wesen beschreibe, das zur Gemeinschaft bestimmt ist, „klingt… durch das biblische Grundzeugnis… als Grundton vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht“, heißt es weiter. Von dieser „Grundüberzeugung“ aus betrachtet seien „gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen sich Menschen zu einem verbindlichen und verantwortlichen Miteinander verpflichten, auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen.“, heißt es im Papier des Rates der EKD.
Es zähle, so die EKD, „zu den Stärken des evangelischen Menschenbilds, dass es Menschen nicht auf biologische Merkmale reduziert, sondern ihre Identität und ihr Miteinander in vielfältiger Weise“ beschreibe. So lebten „viele homosexuelle Paare als Familie mit Kindern aus früheren Beziehungen oder mit Kindern, die durch eine Samenspende gezeugt wurden“, betont das Führungsorgan von 20 lutherischen, unierten und reformierten Kirchen in Deutschland.
EKD-Orientierungshilfe: Fehlinterpretation der Heiligen Schrift
Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Weltanschauungsfragen e.V. (Lage), Michael Kotsch, bezeichnet diese sogenannte Orientierungshilfe der EKD als „fatale Fehlinterpretation der Heiligen Schrift, nach der einzig und allein die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau dem Willen Gottes entspricht, in die hinein Kinder gezeugt, geboren werden und aufwachsen.“ Alle anderen Partnerschaftsmodelle seien „egozentrische menschliche Erfindungen und widersprechen der von Gott gewollten Schöpfung“. Bei dem Papier handele es sich „ja nicht um eine politische Denkschrift, sondern um eine theologische Stellungnahme, die nicht den Stand der christlichen Ehe fördert, sondern diesen der zeitgeistorientierten Beliebigkeit preis gibt“, so Kotsch. Die EKD verkehre Luthers Aussage zur Ehe. „Ehe nannte Luther deshalb `weltlich`, weil er sie aus dem Machtbereich der Kirche lösen und der Gesetzgebung unterstellen wollte.“ Luther hätte „niemals bestritten, dass die Ehe auf dieser Erde die Aufgabe hat, ein Bild für die Evangeliumsbotschaft zu sein“, betont Kotsch.
SPIEGEL: Ehe ist nicht mehr wirklich ernstgemeint
In einer SPIEGEL-Kolumne schreibt Jan Fleischhauer: „Gute Nachricht für alle, die bislang vor einer kirchlichen Trauung zurückschreckten. Der Satz `Bis dass der Tod euch scheidet` ist nicht mehr wirklich ernstgemeint, wie die Evangelische Kirche festgelegt hat. Die Selbstsäkularisierung der Protestanten strebt einem neuen Höhepunkt zu.“ Der „familienpolitische Leitfaden“ der EKD, so Fleischhauer, sei ein „spektakulärer Versuch der Verweltlichung von innen, wie ihn so noch keine der großen Religionen unternommen“ habe. „Fühl dich wohl“, heiße die frohe Botschaft der Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Der Kolumnist beschreibt die Konfirmation seines ältesten Sohnes mit den Worten: „Fünf der Jugendlichen trugen im Gottesdienst unter dem aufmunternden Blick der Pastorin selbstformulierte Glaubensbekenntnisse vor. Es waren Bekenntnisse, woran sie alles nicht glauben: die Genesis, die Auferstehung, das Jüngste Gericht. Am Ende erklärten sich die Konfirmanden einverstanden, Gott als eine `positive Kraft` zu sehen. Dann umarmte man sich, die Pastorin sprach ein Gebet, und die Gemeinde versammelte sich zum Abendmahl.“
Fleischhauer führt weiter aus: „Versuchen Sie mal, Näheres über Himmel und Hölle zu erfahren. Das wird nicht einfach, wie ich aus Erfahrung weiß. Man dürfe das nicht zu wörtlich nehmen, heißt es dann verlegen, die Evangelische Kirche sei schließlich `keine Kirche der Angst`.“
DIE WELT: Eigenständige (Gegen-)Position der Kirche kaum noch erkennbar
Unter der Überschrift „Kirche gibt dem Scheitern von Ehen ihren Segen“ schreibt DIE WELT, dass die evangelische Kirche das Leitbild der lebenslangen Treue in der Ehe aufweiche. Auf den „160 Seiten, in denen sich die ganze Vielfalt und auch Unsicherheit des neueren protestantischen Ehe- und Familienverständnisses niederschlägt“, werde „gar nicht erst versucht, die lebenslange Treue von Ehepaaren und Eltern mit normativer Kraft auszustatten.“ „Unentschieden heißt es: `Die Kirchen unterstützen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen`.“
WELT-Redakteur Matthias Kamann schreibt, dass es sehr für die evangelische Kirche spreche, „dass sie den gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel in den Blick nimmt.“ Die Krux des „familienpolitischen Textes, den eine 14-köpfige Expertenkommission… im Auftrag des Rates der EKD in einem dreijährigen Diskussionsprozess erarbeitet“ habe, bestehe darin, „dass der Text in der Aufmerksamkeit für die Veränderungen im Verständnis von Ehe und Familie so weit geht, dass eine eigenständige (Gegen-)Position der Kirche kaum noch erkennbar ist.“ Die EKD verzichte darauf, dem gesellschaftlichen Wandel etwas entgegenzusetzen, so Kamann.