Auszug aus dem Titel „Was ist Schamanismus?“ (PDF-Version)
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3. Kommunikation mit unsichtbaren Wesen und Mächten
„Ein Schamane ist ein Mensch, der konkrete, unmittelbare Beziehungen zu der Welt der Götter und Geister hat; er sieht sie von Angesicht zu Angesicht; er spricht mit ihnen, bittet sie; fleht sie an.“ (Eliade, S. 97). Diese Kommunikation mit den oben genannten Geistwesen ist grundsätzlich zweiseitig. Schamanen sprechen mit ihren Geistern, ihren Herren und Meistern, und sie lassen sich von ihnen helfen und beraten.
a) Rituale dienen zunächst der Anrufung und Anlockung von Geistern. Die Techniken der Anrufung und Anlockung sind vielfältig und differenziert. Sie unterscheiden sich nach Kultur, „Religion“ und Region.
Zu den Mitteln und Techniken der Kommunikation mit der Geisterwelt gehören u.a.
- die Schamanentracht
- Masken, Trommeln
- Symbole (auf Tracht und Trommel)
- Schamanen-Gesänge, die Lieder der Kraft oder Kraftlieder
- Beschwörungsformeln, die Worte der Kraft, Mantren und rituelle Gebete
- Signalwörter
- Amulette
- Sprechgesang oder Chanting
- Tanzstile und Körpergesten
- Bekleidungsstile und Farben(aus)wahl (vgl. u.a. Steyne, S. 101 ff.; Fohr)
Zur Kommunikation bzw. Anrufung und Anlockung gehören vor allem die Imitation oder Nachahmung des sog. „Krafttieres“ im Krafttiertanz, bei dem der Schutzgeist durch Kleidung, Maske, Gestik, Laute usw. nachgeahmt wird (vgl. Harner, S. 91 -105; Oertli, S. 100/101, 106; Eliade, S. 101, 133, 167; Montal, S. 131).
Zur Kommunikation mit den Geistwesen gehören die Verehrung der Geister in Tänzen und Liedern sowie das Ritualopfer, das meist ein Blutopfer (ein Tier oder ein Mensch) verlangt.
Eine besondere Verehrung gilt den „vier Himmelsrichtungen“ und den „fünf Elementen“ (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther; vgl. u.a. Harner, S. 116; Cowan, S. 49, 83 ff.).
Trance-Induktion und Kommunikation mit der geistigen Welt führen zum Kontakt und schließlich zu einem Kontrakt des Schamanen mit der Geisterwelt (vgl. Steyne) im Sinne einer wechselseitigen Verpflichtung:
- Der Schamane ist verpflichtet, ein Opfer darzubringen
- Die Geister sind verpflichtet, dem Schamanen oder Patienten zu „helfen“
b) Auf der anderen Seite kann auch die geistige Welt mit dem Schamanen kommunizieren. Zu den Kommunikationstechniken der Geister gehören:
- Gespräche und Unterweisungen in außerkörperlichen Zuständen (vgl. unten)
- Sprache der Tiere, Pflanzen, Steine, Bäume („Sprache der Natur“)
- die mediale Technik (wenn Geister durch den Schamanen im Zustand der Trance sprechen; vgl. unten).
- im unkontrollierten Verhalten des Besessenen (vgl. Eliade, S. 354)
- in Manifestationen wie Zittern, Zucken, Zappeln (vgl. Eliade, S. 134, 221, 305, 308, 333, 349, 400; Goodman, S. 33).
- in Versteifungen, Verkrampfungen, Verrenkungen des Körpers (vgl. Eliade, S. 349; Goodman II, S. 13, 30, 33, 40; Tedlock, S. 27)
- in Tierstimmen, die aus dem Munde des Besessenen kommen (vgl. Tedlock/Tedlock, S. 42; Findeisen, S. 42)
- in Hitzeempfindungen (vgl. Tedlock, S. 27; Eliade, S. 392/3)
- im Zungenreden/Glossolalie (vgl. Steyne, S. 97)
- im unkontrollierten Lachen (vgl. Steyne, S. 97)
- im Umfallen (vgl. Eliade, S. 305)
Träume und Visionen oder geistige Bilder (vgl. u.a. Cowan, S. 64, 199)
Besonders wichtig ist den Schamanen die Kommunikation über Träume und Visionen. Während der Initationszeit (= Lehrzeit) gehen Schamanen in die Einsamkeit auf Visionssuche. Träume und Visionen sind für Schamanen immer eine Form der Kommunikation der Geisterwelt mit den Menschen. Sie umfassen Lehren, Unterweisungen, Botschaften, Ratschläge und Befehle (vgl. z.B. Eliade, S. 24, 108, 115/6, 246, 288; Montal, S. 35, 70, 88, 156 ff.)
In schamanischer Sicht öffnen Träume die Tür zur anderen (nicht: „inneren“), unsichtbaren Welt der Götter, Geister und Dämonen. Die Welt des Träumers ist die andere Wirklichkeit.
4. Schamanische Reisen
„Der Schamane ist der Spezialist einer Trance, in der seine Seele den Körper zu Himmel- und Unterweltfahrten verläßt“ (Eliade, S. 15, 45).
Schamanische Reisen sind außerkörperliche Reisen in die andere Welt, bei denen der Schamane seinen Körper verläßt (vgl. Eliade, S. 15, 29, 34, 44, 48, 60/1, 70, 83, 85, 94, 178, 184, 195, 210 ff., 219, 215/6, 227, 233, 246, 289; Cowan, S. 11, 111; Montal, S. 10, 59). Außerkörperliche Reisen führen in die Höhe auf einen Berg (vgl. Eliade, S. 143), in die Tiefe des Meeres, auf den Meeresgrund (vgl. Eliade S. 196, 226, 277, 281, 283/4; Montal, S. 66, 97), oder sie folgen einem Fluß bis zur Quelle zurück (vgl. Eliade, S. 143).
Schamanische Seelenreisen nutzen Zaubergegenstände, und sie finden regelmäßig unter der Kontrolle eines Geistführers statt (vgl. Eliade, S. 46, 109, 212, 216). Außerkörperliche Reisen in die andere Welt sind nicht an Zeit und Raum gebunden; sie sind blitzschnelle Reisen im Raum (vgl. Eliade, S. 388, 389), z.B. zu fernen Planeten, oder sie sind Zeitreisen in die Vergangenheit oder Zukunft. Schamanische Reisen sind meist Reisen „im Geiste“, aber es wird auch von Reisen im Körper bzw. mit dem Körper berichtet (vgl. Eliade, S. 338). Seelenreisen finden meist im Schlaf oder Traum statt (vgl. Eliade, S. 289, 347), während der Körper leblos zurückbleibt (vgl. Eliade S. 280, 363). Zu den Reisen im Körper gehören die Levitation und Entrückung oder Entraffung, das Verschwinden und Materialisieren des Körpers (z.B. an einem anderen Ort).
Schamanische Reisen sind stets Reisen zu den Göttern, Geistern und Dämonen. Sie dienen der Kommunikation, der Belehrung, Unterweisung und Beratung des Schamanen. Dabei kann sich der Schamane in ein Tier, z.B. in einen Vogel verwandeln. Auch der Geistführer hat in der Regel die Gestalt eines Tieres, so z.B. die eines Adlers.
Zur Einleitung außerkörperlicher Reisen visualisieren Schamanen eine Öffnung, ein Loch (vgl. Harner, S. 50 ff., 60 ff., 118 ff.; Oertli, S. 43; Cowan, S. 58 ff.; Eliade, 231, 281, 249, 258), das Tor zur Unterwelt und einen Tunnel, durch den die Seele hindurch auf die andere Seite muß (vgl. Harner, S. 50; Cowan, S. 51, 61 ff., 68/9, 50). Dazu benutzen Schamanen seit Jahrhunderten sogenannte Mandalas. Das sind konzentrisch aufgebaute Kreisbilder mit einem Mittelpunkt (vgl. Harner, S. 54, Oertli, S. 160, 194).
Schamanische Reisen sollen stets den gleichen Weg zurücknehmen, weil sonst die Gefahr besteht, daß die Seele den Weg nicht zurückfindet und der Schamane stirbt oder verrückt wird (vgl. Harner, S. 59, Cowan, S. 74; Montal, S. 19; Oertli, S. 53; vgl. insgesamt auch: Bauer/Behringer 1997).
5. Inkorporation geistiger Wesen und Mächte
Statt den Körper zu verlassen, um Geister zu treffen, können Schamanen ihre Schutz- und Hilfsgeister in den Körper einladen, einverleiben oder inkorporieren (vgl. Eliade, S. 91/2, 100/1, 229, 230/1, 243 ff., 354). Sie lassen sich von Geistern in Besitz nehmen bzw. besessen machen. Auch hier öffnet sich die Tür zu unsichtbaren Wesen und Welten in der Regel durch ekstatische Formen der Trance-Induktion mit Hilfe von Trommeln, Rasseln, Tambourinen oder Kalebassen.
In sogenannten Krafttiertänzen vereinigen sich Schamanen mit ihrem „Krafttier“, „Schutzgeist“ oder Geistführer. In Trance kommunizieren Schamanen mit ihrem „Krafttier“ im Wege der Imitation oder Nachahmung. Sie imitieren ihr Krafttier (z.B. einen Bär) durch Kleidung, Bewegung, Gestik, Sprache, Maske und im Wege der inneren Visualisierung oder Imagination ihres „Krafttieres“ (vgl. Harner, S. 91-105; Eliade, S. 100/1, 106, 133, 167; Montal, S. 90, 131; Findeisen/Gehrts, S. 103).
Die Inkorporation oder Inbesitznahme zeigt sich u.a.