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Tendenzen zu Religion und Glaube 2012 / 13

PDF: Tendenzen zu Religion und Glaube 2012 / 13

Religion und Glaube haben die Menschen schon durch ihre gesamte Geschichte begleitet. Die Faszination angesichts der Schöpfung, das Wissen um die eigene Endlichkeit, das angeboren Wissen um die Existenz Gottes und die Sehnsucht nach Sinn und nach verlässlichen Maßstäben gehören unabdingbar zum Menschsein.

Die Ausprägungen und konkreten Erscheinungsformen von Religion und Glaube unterliegen jedoch einer ständigen Veränderung. Geschützt von stabilen politischen Verhältnissen und einer ausgeprägten Religionsfreiheit können sich Religion und Glaube in Mitteleuropa relativ frei entwickeln. Momentan lassen sich vor allem die folgenden fünf Tendenzen beobachten.

1. Säkulare Verdiesseitigung

Die spätestens seit der Französischen Revolution einsetzende Konzentration des Menschen auf die Bedingungen seines irdischen Lebens hat sich weiter fortgesetzt. Dadurch werden die religiösen Bedürfnisse nicht abgeschafft, aber weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt. Vorreiter einer verstärkten Säkularisation forderten in jüngster Vergangenheit das Abhängen von Kreuzen in öffentlichen Gebäuden, die Abschaffung des Glockenläutens, die Streichung staatlicher Zuschüsse für kirchliche Arbeit, die Einschränkung des Religionsunterrichts, die Indizierung der Bibel als jugendgefährdende Schrift usw. Religiöse Diskussionen werden immer mehr als Tabu empfunden. Kaum ein prominenter Europäer äußert sich zu seinen religiösen Überzeugungen.

Christen ist es peinlich geworden, in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft frei von ihrem Glauben zu erzählen. Der Begriff „Mission“ wird immer stärker negativ besetzt, als Aufdrängen ungewollter Überzeugungen oder mentaler Belästigung. In hilfsbedürftigen Regionen der Welt ist die deutsche Öffentlichkeit bereit, soziale Hilfe kirchlicher Träger zu tolerieren, aber nur, wenn sie ohne Glaubensbekenntnis angeboten wird.

Religion hat in einer vorwiegend von nichtreligiösen Medienschaffenden geprägten Berichterstattung eine Randbedeutung. Beiträge mit religiösen Inhalten spiegeln oftmals lediglich die Religiosität oder häufiger Nicht-Religiosität der betreffenden Medienvertreter wieder.

In politischen oder wissenschaftlichen Diskussionen muss sich der Glaube immer häufiger der Unterstützung der Sozialwissenschaften versichern, um gehört zu werden. Jenseitsbezogenen Aussagen von Kirchen und Christen begegnet man mit Unverständnis oder einem milden Lächeln.

2. Postmoderne Zersplitterung

Auf allen Ebenen ausgeübter Religiosität tritt die Bedeutung gemeinsamer, lehrmäßiger Bekenntnisse zurück. Für den postmodernen Mitteleuropäer sind Religion und Glaube unabdingbar mit einer unhinterfragbaren Subjektivität verbunden. Rationale Argumente oder verschriftlichte Offenbarungen Gottes verlieren an Überzeugungskraft. An ihre Stelle treten zunehmend individuelle Erfahrungen. Gott redet in den Tiefen der eigenen Gefühlswelt. Dieses „Reden Gottes“ wird durch äußere Formen und Dogmen behindert, so empfinden es viele Menschen. Traditionelle Kirchen und Gemeinden verlieren an Zuspruch oder bieten unterschiedlichste Foren an, in denen verschiedene religiöse Entwürfe ausgelebt werden können (z.B. Gottesdienste für unterschiedliche Geschmäcker und Szenen). Manche Kirchen zerfallen in Kleingruppen. Immer mehr religiöse Sondergruppen entstehen, wenn auch nur mit einem begrenzten Wirkungsfeld. Jeder findet die religiös Gleichgesinnten, die er sucht, wenn häufig auch nur in einer virtuellen Gemeinschaft. Wenn es theoretisch auch möglich ist, eigene religiöse Überzeugungen und Vorurteile durch Andersdenkende in Frage stellen zu lassen, igeln sich viele Menschen mit Hilfe elektronischer und realer „Mag ich“-Buttons in einer immer kleiner werdenden Gemeinschaft Gleichgesinnter ein. Störende Zwischenrufe von außerhalb werden effektiv weggefiltert. Jede Meinung findet ihr Forum. Bewertungsmaßstäbe aber sind rar geworden und werden argwöhnisch als Einschränkung absoluter individueller Freiheit betrachtet.

Mancher zieht sich gänzlich aus organisierter Gemeinschaft heraus und lebt seinen „einzigartigen“ Glauben nunmehr für sich allein. Anhänger von Emerging Church bewerben dieses Konzept als „Christsein der Zukunft“. Jeder darf ohne schlechtes Gewissen seinen eigenen Vorurteilen frönen.

3. Verschwimmende Grenzen zwischen Rationalität und Irrationalität

Ergebnisse mathematischer, physikalischer oder chemischer Forschung lassen Naturwissenschaft und Philosophie immer näher zusammenrücken. Zahlreiche Konzepte (z.B. über den Aufbau der Materie oder des Universums) entsprechen nicht mehr der gewöhnlichen Erfahrungswelt sondern ähneln religiösen Feststellungen. Logische oder theologische Perspektiven spielen in der religiösen Welt Mitteleuropas gegenwärtig eher eine untergeordnete Rolle. Traditionell eher rational orientierte Akademiker sehen kein Problem darin, in einem Teilbereich ihres Lebens der Irrationalität freien Raum zu lassen. Ärzte benutzen modernste Analyseverfahren und bieten ihren Patienten gleichzeitig magische Heilsteine oder religiös- energetische Behandlungen asiatischer Herkunft an. Gleiches gilt für Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Hebammen, Psychotherapeuten und Gesundheitsberatern.

Engel und Buddha- Statuen finden reißenden Absatz, auch bei Menschen, die ihr Alltagsleben eher säkular und rational organisieren. Wissenschaftliche Analysen finden sich in der öffentlichen Diskussion auf einer Ebenen mit irrationalen Ängsten oder Ahnungen, nach denen Meinungen geprägt und politische Entscheidungen getroffen werden.

Der Mythos wissenschaftlicher Theologie tritt immer mehr zurück. Willkürliche theologische Konzeptionen und Verschwörungstheorien finden demgegenüber reichlich Zuspruch („Jesus war in Indien“, „Jesus war ein Außerirdischer“, „Die Bibel ist von der Kirche gefälscht“, „Jesus ist eine Nachahmung von Horus oder Mithras“, „Geheime Mächte regieren die Welt“ usw.). Was ansatzweise plausibel erscheint wird nicht mehr weiter geprüft, sondern bei passender momentaner Stimmungslage akzeptiert.

4. Religion als emotionales Konsumgut

Religion wird vermarktet und verkauft, in Musik, Film und Werbung. Religiöse Großveranstaltungen (z.B. Papstbesuch, Esoterik-Messen, „christliche“ Konzerte) werden als Erlebnis und religiöse Seelenmassage konsumiert. Die persönliche Überzeugung oder die fehlende inhaltliche Übereinstimmung mit den Initiatoren der Veranstaltung treten hinter den eigenen, manchmal gegenläufigen Gefühlen zurück.

Ganz gleich ob evangelisch oder katholisch, charismatisch oder pietistisch; allein der momentane Eindruck, die augenblickliche Stimmungslage während der Veranstaltung zählt. So werden religiöse Bedürfnisse und Sehnsüchte nach Gemeinschaft und emotionaler Nähe zu Gott scheinbar erfüllt. Religion wird als Erlebnis organisiert und erfahren. Die Veranstaltung verpflichtet zu nichts. Musik und andere stimmungserzeugende Elemente vermitteln angenehme, authentisch empfundene Erfahrungen. „Gotteserfahrungen“ werden persönlich gestylt, produziert und verkauft. Gemeinschaftserlebnisse werden zur
notwendigen Ergänzung zersplitterter und einsamer Alltagsreligiosität – auch wenn in der Masse jeder seinen eigenen, sehr unterschiedlichen Gefühlen und Assoziationen nachhängt. Die Verbundenheit der Gruppe bezieht sich lediglich auf den gemeinsamen Ort und den gemeinschaftlich erfahrenen Rahmen. So bleiben große religiöse Veranstaltungen offen für persönliche Deutungen und bieten interpretationsfähige religiöse Schablonen, Chiffren und Stichworte an. Gleichzeitig beinhalten sie nur wenig konkret festgelegte Inhalte.

5. Quasireligiöse Verschwörungstheorien

Viele Menschen befriedigen ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Bedeutung und Erklärung ihrer eigenen Existenz als Sympathisanten immer neuer Verschwörungstheorien. Diese bieten einfache, scheinbar alles erklärende Deutungen und geben konkrete Denk- und Handlungsanweisungen. Kritische Fragen sind generell unerwünscht. Dogmen der eigenen Gruppe müssen geglaubt werden. Außenstehende werden als Feinde oder Unwissende abgelehnt. In einer unübersichtlichen und globalisierten Welt definieren einfache Schemata gut und böse. Absolut böse Gegner sind wahlweise die Illuminaten, die Freimaurer, die Kommunisten, die Juden, die EU, der Staat allgemein, die katholische Kirche, Scientology, der Islam, der Opus Dei, die Bilderberger, die Satanisten, die Esoteriker usw.

Behauptet werden kann alles, weil letztlich nichts bewiesenen werden muss. „Geheime Quellen“, „glaubwürdige Zeugen“ und „eindeutige“ Symbole oder Zitate gelten als Garanten, zur exklusiven Gruppe der „Wissenden“ zu gehören. Selbst entgegen offensichtlichen Fakten wird an den Dogmen der eigenen Gruppe festgehalten. Eigene Medienkanäle, Veranstaltungen und eine, meist Außerstehenden unverständliche „Fachsprache“, erzeugen eine Gruppenatmosphäre und verstärken den pseudoreligiösen Aspekt der Verschwörungstheorien. Alles was allgemein bekannt zu sein scheint oder offiziell mitgeteilt wird, gerät schon allein deshalb in Verdacht, gefälscht und manipuliert zu sein. So kritisch man fremden Quellen gegenüber ist, umso unkritischer verhält man sich internen Mitteilungen und „Fakten“ gegenüber. Oftmals sind gerade religiös orientierte Menschen besonders offen für Verschwörungstheorien aller Art. Dabei einsteht in christlichen Kreisen ein undurchsichtiges Gemisch von biblischen und verschwörungstheoretischen Glaubenssätzen.

Fazit

Jede dieser Tendenzen kann natürlich, je nach eigener Sichtweise und Orientierung, positiv oder negativ bewertet werden. Und es bleibt unbenommen, dass Religion und Glaube nach wie vor eine wichtige Rolle in den Gesellschaften Mitteleuropas einnehmen. Menschen aber, die sich „Christen“ nennen, sollten sich nicht von menschlich erdachten Programmen oder Theorien leiten lassen, sondern christuszentriert Gottes Wort als geistliche Grundlage bewahren und dieses offensiv und effektiv in der Öffentlichkeit vertreten.

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Autor: Michael Kotsch
(Quelle: Zeitjournal Jahresausgabe 2011) © AG Welt e.V.

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