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Sekte – Was ist das? Sekten, Sondergruppen und Kulte

PDF: Sekte – Was ist das?

Päpste, Außerirdische und neue Offenbarungen

Wer sich in der religiösen Landschaft Deutschlands umsieht, trifft auf allerlei originelle Gruppen und seltsame Heilige. Die eine Gemeinde ist überzeugt, ihr Leiter hätte aufgrund seiner hohen Geistlichkeit die allein richtige Interpretation der Bibel. Die andere Gruppe weiß das sichere Datum des Weltuntergangs und plant bereits die Ausreise. Da stellt sich jemand als von Gott berufener Prophet vor. Dort verkündet ein anderer, er stehe in ständigem Kontakt mit Jesus, dem Kommandanten eines interstellaren UFOs. Es gibt fast nichts, was es nicht gibt. Manchem drängt sich angesichts dieser widersprüchlichen religiösen Vielfalt die Frage auf, wie man Sekte und Kirche voneinander unterscheiden kann. Außer allgemeinen Vorwürfen, wie Geldmissbrauch, skurrile Sitten oder selbstherrliche Leiter werden selten konkrete, eindeutige Kennzeichen genannt, die eine religiöse Gruppe zur Sekte machen. Nach dieser Definition findet man Sekten hauptsächlich in den Medien, wo nur die besonders auffälligen Gruppen, wie Scientology oder die Zeugen Jehovas, porträtiert werden und das zumeist noch recht einseitig.

Es gibt keine Sekten!?
Eigentlich gibt es gar keine Sekte. Diese Aussage ist nicht als Scherz gemeint, sondern hebt darauf ab, dass sich keine religiöse Gruppe selbst als Sekte bezeichnet. Außerdem existiert keine klare und allseits akzeptierte Definition von Sekte. Sekte, das sind immer die anderen, je nach Ausgangspunkt und Sichtweise. Der Begriff Sekte dient heute nicht mehr der neutralen Zuordnung einer religiösen Gruppe, sondern wird als diffamierender Kampfbegriff eingesetzt. Mit Sekte werden eindeutig negative Assoziationen verbunden. Eine als Sekte bezeichnete Gruppe wird als falsch und unrecht, womöglich sogar als gefährlich angesehen. Kenner der religiösen Szene tendieren aus diesem Gründen dazu, statt Sekte die Bezeichnungen Kult, destruktiver Kult oder Sondergemeinschaft zu benutzen, die noch unvorbelastet sind.

Sekte als das Unbekannte
Sekte ist für viele Menschen einfach das Unbekannte. Aus der Sicht eines italienischen Katholiken könnte selbst die evangelische Kirche als Sekte dastehen. Für manchen Evangelischen deuten Gemeindenamen wie Baptisten oder Mennoniten auf Sektierertum. Sekte ist hier das Fremde, das Skurrile, das Andersartige. Oftmals kennen die Be-treffenden die Gruppe gar nicht, die sie als Sekte bezeichnen. Es sind eher Vorurteile oder Gerüchte, denen man Glauben schenkt. Und trifft man dann ein freundliches Mitglied der Neuapostolischen Kirche oder besucht mit diesem gar einen neuapostolischen Gottes-dienst, wirkt alles recht normal und vertraut, nicht so seltsam, wie man es erwartet hatte. Diese Sekten-Definition beruht eher auf einer unzureichenden Auseinandersetzung mit fremden, religiösen Gruppen und hilft in der Konfrontation mit wirklichen Sekten kaum.

Sekte als Abspaltung
In Stellungnahmen der großen Kirchen wurden über lange Zeit hinweg die kleineren, und später entstandenen religiösen Gruppen, als Sekten bezeichnet. Dafür berief man sich auf die Herleitung des Begriffs Sekte vom lateinischen secare (= trennen, abschneiden). Folglich können alle, die sich von der ursprünglichen Kirche abgespalten haben, als Sektierer bezeichnet werden. Aus katholischer Sicht trifft das auf alle anderen Kirchen zu. Für Evangelische zählten deshalb lange Freikirchen zu den Sekten. Doch so einfach diese Definition klingt, so wenig plausibel ist sie bei genauerem Hinschauen. Schließlich könnte auch die katholische Kirche als jüdische Sekte bezeichnet werden. Schließlich sah man die ersten Christen als eine besondere Gruppe von Juden an, die sich dadurch auszeichneten, dass sie Jesus für den erwarteten Messias hielten. Auch aus Sicht der orthodoxen Kirche könnte man die katholische als Sekte bezeichnen, da sich doch die Orthodoxen als die ursprüngliche Kirche betrachten. Und selbst mit den Kirchen der Reformation ist es nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint. Aus Luthers Sicht nämlich ist die katholische Kirche von der ursprünglichen Lehre der Evangelien abgerückt. Demnach hat sie sich von der biblischen Gemeinde getrennt und muss als Sekte bezeichnet werden. Wer Sekte als Abspaltung definiert, muss dabei deutlich machen, was vom Ursprünglichen erhalten bleiben soll und bei welchen Änderungen man von einer Abspaltung sprechen muss. Schaut man lediglich auf die organisatorische Kontinuität, haben sich die Protestanten von den Katholiken abgetrennt. Betont man hingegen die lehrmäßige Kontinuität, könnte man auch sagen, dass die katholische Kirche sich von den Überzeugungen der frühen Christen abgespalten hat und die Evangelischen die wahren Erben der ersten Christen sind. Gleiches gilt dann natürlich auch für die Freikirchen, die zwar später entstanden sind, für sich aber in Anspruch nehmen, den Weg zurück zum biblischen Christsein gefunden zu haben. Diese Sekten-Definition dient eher der Selbst-rechtfertigung organisatorisch alter Kirchen. Über den Charakter einer religiösen Gemeinschaft gibt sie keine Auskunft.

Sekte als gesellschaftliche Gefahr
Staatliche Stellen und säkulare Beratungsstellen favorisieren soziologische Kriterien, um zu definieren, was sie unter Sekten verstehen. Hier wird kein einzelnes Prinzip als Kriterium genannt. Stattdessen gibt man dem Interessierten eine Checkliste an die Hand, die sich auf äußere Aspekte konzentriert. In einer Broschüre des Landes Schleswig Holstein beispielsweise werden 17 Punkte angeführt, nach denen man unbekannte Gruppen ein-ordnen soll. Das Blättchen schließt ab mit der Mahnung: „Schon bei einem ‚Ja‘: Vorsicht!“
Hier eine kurze Auswahl was Landespolitiker für sektiererisch halten: „Bei der Gruppe findest Du exakt das, was Du bisher gesucht hast. Sie weiß erstaunlich genau, was Dir fehlt.“ „Schon der erste Kontakt eröffnet Dir eine völlig neue Sicht der Dinge.“ „Die Welt treibt auf eine Katastrophe zu, und nur die Gruppe weiß, wie man die Welt retten kann.“ „Dein Sexualverhalten wird Dir exakt vorgeschrieben …“ Des weiteren werden Gruppen beargwöhnt, die sich durch Sprache oder Kleidung abheben, die von ihren Mit-gliedern einen hohen Zeiteinsatz fordern, die meinen, dass die Menschheit außerhalb der Gruppe verloren geht oder die einen Leiter/ Führer/Guru an der Spitze haben, der scheinbar im Besitz der ganzen Wahrheit ist.
So konkret diese und ähnliche Aufzählungen auch sind, helfen sie doch nur wenig weiter. Nimmt man die genannten Kriterien wirklich ernst, müsste man jeden engagierten Gläu-bigen als Sektierer bezeichnen. Jeder Christ, ganz gleich ob katholisch, evangelisch oder freikirchlich, ist der Überzeugung, dass Menschen ohne Gott verloren gehen und er behauptet, dass Jesus Christus im Besitz der ganzen Wahrheit ist. Jeder überzeugte Christ ist auch bereit, viel Zeit und Geld für seine Gemeinde zu investieren und hält die moralischen Ordnungen der Bibel für verpflichtend, selbst das, was die Sexualität angeht. Nun wäre es absurd, Millionen von Katholiken und Protestanten ohne ernsthaften Grund unter Sekten-verdacht zu stellen.
Konsequent müsste man auch alle überzeugten Muslime und Hindus der Sektiererei beschuldigen, denn auch sie kennen feste moralische Ordnungen und prognostizieren eine zukünftige Weltkrise. Sie meinen im Besitz der religiösen Wahrheit zu sein und fordern einen gewissen zeitlichen Einsatz.
Schlussendlich stellt sich auch die Frage, was denn so gefährlich an Gruppen ist, die wissen, „wonach Du bisher vergeblich gesucht hast“ und die „eine völlig neue Sicht der Dinge“ eröffnen? Diese Sekten-Definition ist unpraktikabel, weil sie jeden engagierten Glauben beargwöhnt und ihre Kriterien auch eine ganze Reihe von säkularen Organisationen in Sektenverdacht brächte.

Sekte als Gegner des Zeitgeistes
Hinter manchen zeitgenössischen Sekten-Charakterisierungen verbirgt sich in Wirklichkeit eine massive Ablehnung der Religion und des Glaubens. Man nimmt religiöse Gemeinschaften als Konkurrenz zu einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft wahr. Mit der Zuschreibung eines Sektenimages geht es weniger um neutrale Beschreibungen einer bestimmten Gruppe von religiösen Gemeinschaften, als vielmehr um eine Zurückdrängung religiöser Einflüsse in der Gesellschaft.
Als gute Religion wird nur die betrachtet, die keinen Absolutheitsanspruch erhebt, die keine festen moralischen Forderungen aufstellt, schon gar nicht im Bereich der Sexualität, die wenig Zeit und Geld in Anspruch nimmt, die niemanden als verloren erklärt, kurz eine Religionsgemeinschaft, die sich ganz im Einklang mit dem Zeitgeist und den momentanen wissenschaftlichen Anschauungen befindet (Political Correctness).
Diese Definition benutzt den Sekten- Begriff lediglich als Instrument zur Diffamierung einer grundsätzlich anderen Weltanschauung.

Sekte als Irrlehre
Sachlicher und zutreffender sollte eine Gruppe als Sekte bezeichnet werden, die sich zu einer Religion zählt, ohne deren grundlegendsten Überzeugungen zu teilen. Konfessionen hin-gegen sind Gruppen innerhalb einer Religion, die sich in den entscheidenden Prinzipien einig sind. Damit wird nicht gesagt, dass die Anhänger einer Sekte böse oder gefährlich wären, nur dass sie sich fälschlich als Mitglieder der entsprechenden Religion bezeichnen. Zeugen Jehovas betrachten sich als Christen, obwohl sie beispielsweise die grundlegend christliche Auffassung der Gottheit Jesu nicht teilen. Im Gegensatz zum christlichen Konsens meinen Mormonen, sich selbst zu Gott weiterentwickeln zu können.
Wenn man den Sekten-Begriff auf den Sport anwenden wollte, würde man damit eine Handball-Mannschaft bezeichnen, die vorgibt Fußball- Mannschaft zu sein. Natürlich gibt es auch innerhalb des Christentums Differenzen. Bleiben diese aber in einem bestimmten Rahmen, spricht man von konfessionellen Unterschieden, die zumeist gegenseitig toleriert werden. Das verhält sich ähnlich wie die Rivalitäten zwischen verschieden Fußballvereinen, die sich über Stil, Strategie und Image des Fußballs trefflich streiten, die Grundregeln ihres Sportes aber teilen. Unveräußerliche Grundüberzeugungen im christlichen Bereich sind die prinzipiellen Aussagen der Bibel und deren Interpretation, wie sie von den ersten sieben Konzilien vorgelegt wurden. Zu dem Kernbereich, der Christsein ausmacht, gehören die grundsätzlichen Aussagen über Gott und den Menschen, über Jesus Christus und über die Erlösung.
Sekte ist demnach eine Gruppe, die Etikettenschwindel betreibt, die sich als christlich bezeichnet, ohne die Grundlagen christlichen Glaubens zu teilen. Mit Gefährlichkeit oder Skurrilität hat das wenig zu tun. Gefährlich können Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen sein, aber dann handelt es sich nicht um Sektierer, sondern um Kriminelle oder Geistesgestörte aus dem Bereich der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik oder der Religion.
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Autor: Michael Kotsch
(Quelle: Zeitjournal Nr. 3 / September 2009) © AG Welt e.V.

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