Von Thomas Schneider
Seit dem 1. April 2012 ist Margot Käßmann „Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Reformationsjubiläum 2017“. Genau ein Jahr später, am 1. April 2013, geißelt die EKD-Beauftragte den Reformator Martin Luther in einem FAZ-Gastbeitrag.
Einführend heißt es dort:
„Martin Luther wurde mit wachsendem Alter ein wahrer Judenfeind. Selbst die Nazis nutzten seine Schriften als Rechtfertigung. Insbesondere den Juden ist es zu verdanken, dass dieses dunkle Kapitel aufgearbeitet wurde.“
Die Antwort des Volkes im Matthäusevangelium „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ lege
„mit anderen (Passagen) aus dem Neuen Testament den biblischen Grundstein für die Schuldgeschichte der Kirchen mit den Juden“.
Luther sei „ein erschreckendes Beispiel“ christlicher Judenfeindschaft, so Käßmann. Dies belege seine 1543 veröffentlichte „Schmähschrift“ „Von den Juden und ihren Lügen“ mit – wie es die Luther-Botschafterin bezeichnet – „unfassbaren Äußerungen“. Luther habe, „wie fast alle anderen Reformatoren auch, einen klaren Antijudaismus“ vertreten. Die Lutherschrift von 1543 habe, so Käßmann weiter, „als Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord an europäischen Juden“ gedient. So habe die evangelische Kirche erst „nach 1945 die Bedeutung des jüdischen Erbes für den christlichen Glauben völlig neu verstehen gelernt.“
Martin Luther und der Holocaust
Bis heute streiten sich Historiker, Philosophen und Theologen um die Wertigkeit der von Käßmann kritisierten Schrift Martin Luthers. Zur Frage, ob der Reformator ein Judenfeind oder Antisemit war, kommen sie zu unterschiedlichen Antworten. Nur wenige beantworten die Frage mit einem Nein.
Der geschichtliche Blick auf den Holocaust in der Zeit des Nationalsozialismus lässt den Reformator Martin Luther sehr leicht in die rassistische Ecke stellen. Aber kann Luther für etwas – sozusagen nachträglich – verantwortlich gemacht werden, was erst Jahrhunderte später geschieht?
Ist Luther etwa sogar der „Vater des Nationalsozialismus“, wie ihn der US-amerikanische Journalist William L. Shirer in seinem Buch „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1961) betitelte? Lutherische Kirchen haben sich von solchem und ähnlichem Klischeedenken dahin führen lassen, Luthers Juden-Äußerungen sozusagen als Grundschuld zur Judenverfolgung auf sich zu nehmen.
Der Kolumnist und Journalist Uwe Simon-Netto widerlegt in seiner Desertation „Luther als Wegbereiter Hitlers?“ (Gütersloher Verlagshaus, 1996) Shirers Vorurteile wie auch die These, dass Luther ein leidenschaftlicher Antisemit gewesen sei. Es ist keine Quelle bekannt aus der hervorgehen würde, dass sich Adolf Hitler in seinem Judenhass auf Luthers Schriften bezogen hätte, wohl aber auf den römischen Katholizismus.
Die große Sehnsucht Luthers
Für Martin Luther sind Juden, genauso wie Moslems, Heiden und sogenannte Karteichristen verlorene Sünder und Feinde des Kreuzes Christi, weil sie sich vor Gott ihrer eigenen Werke rühmen. Sie sind von Blindheit geschlagen von Gott, von der sie wiederum nur Gottes Erbarmen befreien kann (Luthers Psalmenlesung 1518-21, „Kirche und Synagoge“). In seinem gesamten Leben war es Luthers sehnlichster Wunsch, dass Juden zum Glauben an Jesus von Nazareth finden, dem im Alten Testament verheißenen Messias. Dieses wohl verständliche Anliegen Luthers wird in seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) überaus deutlich. Für den Reformator ist die jüdische Hoffnung auf einen noch zu erwartenden Messias vergeblich. Bei seiner Auslegung, dass sich ohnehin nur ein geringer Teil von den Juden bekehren werde, stützt sich Luther auf Gottes Wort in Jesaja 10,21. Dennoch gab Luther seine große Hoffnung im Reformationsgedanken nie auf, die in seinen Schriften recht deutlich wird:
„Weil aber jetzt das goldene Licht des Evangeliums aufgeht und einen hellen Schein von sich gibt, so ist Hoffnung vorhanden, es werden viele unter den Juden ernstlicher und redlicher Weise bekehrt werden und sich so aus der Welt zu Christus ziehen lassen… (denen) durch die Gnade geholfen werden soll.“
(Luthers Schriften, Walch Johann, Bd. 20, 1986).
Gegen jede Werkegerechtigkeit
Bei der Bewertung der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ wird oft sträflich vernachlässigt, dass Luther die Juden mit seiner Kritik in Bezug auf jede Werkegerechtigkeit nicht anders behandelt als das Papsttum und den Islam. Luther begründet die Herausgabe seiner Schrift mit den Worten:
„Weil ich erfahren, dass die elenden, heillosen Leute nicht aufhören, auch uns, das ist, die Christen, an sich zu locken, habe ich dies Büchlein lassen ausgehen, damit ich unter denen erfunden werde, die solchem giftigen Vornehmen der Juden Widerstand getan und die Christen gewarnt haben, sich vor den Juden zu hüten.“
(Luthers Schriften, Walch Johann, Bd. 20, 1986). Die Juden meinten, allein schon wegen ihrer Abstammung den Christen überlegen zu sein. Luther hält den Juden vor, dass ihre Herkunft vom Stammvater Abraham allein vor Gott nichts gilt. Alle sind, so Luther, gleichermaßen Sünder; eben auch die Juden, die sich obendrein wegen des mosaischen Gesetzes rühmen und es doch nicht halten können. Jeder, der sich gegen das Wort Gottes erhebt, ist für Luther ein Sünder. Juden bitten bis heute Gott um den Messias, weil er ihrer Erkenntnis nach noch nicht gekommen ist. Das ist nach Luthers Erkenntnis Sünde.
Die Lästerungen der Juden
Was Luther besonders ärgert, sind die Lästerungen der Juden gegen Christen, gegen Christus und gegen die Mutter Jesu. In den Quellen von Konvertiten und aus dem Talmud (Schriftwerk zur praktischen Umsetzung der Torah-Regeln) findet der Reformator ausreichend Nahrung. Für Luther ist klar: Lästerung gegen Gottes Wort darf nicht zugelassen werden; jeder der das tut, macht sich fremde Sünde zu Eigen. Luther will die Christen vor einer Lehre bewahren, die ihnen die messianische Wahrheit in Christus vorenthält.
Ist aber deshalb der Reformator ein Judenfeind und gar noch mit Hitlers Holocaust in Verbindung zu bringen? In dem Reich, in dem Luther groß geworden ist, ist einzig das Christentum anerkannt. Dass die Juden Einschränkungen hinnehmen müssen, hat einzig und allein religiöse Gründe und keine rassistischen. Erst viel später im 18. Jahrhundert ist von Rassismus die Rede. Zur Zeit Luthers spielt nicht nur die politische und soziale Entwicklung eine Rolle, in der er allen Wucher – jüdischen wie auch christlichen und staatlichen – anprangert, sondern auch um die wachsende Missionsarbeit der Juden, die im Zentrum die Leugnung der christologischen Botschaft des Alten Testaments hat. Luther sieht im Judentum, im Papsttum und im Islam eine schwerwiegende Bedrohung für das Evangelium und verteidigt verständlicherweise alle, die in die Nachfolge von Jesus Christus gehen wollen.
Die jüdische Lehre steht diametral zur biblischen Botschaft
Für Luther ist die jüdische Messias-Erwartung untrennbar mit einem irdischen Messias-Reich verknüpft, das einmal von Juden regiert wird. Dieser Messias würde aber keine Sündenvergebung bringen; Sterben und Tod würde es auch weiter geben. Der Messias, auf den Juden hoffen, wäre dann nichts anderes als ein Herrscher über irdische Völker. Der jüdischen Lehre stehen die alttestamentliche Prophetie und die neutestamentliche Rettungsbotschaft diametral entgegen.
Jesus Christus schenkt Vergebung, rettet vor dem ewigen Tod, verheißt Auferstehung von den Toten und ewiges Leben. Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt. Für Christen ist die alttestamentliche Messias-Erwartung erfüllt. Luther, für den die prophetischen Weissagungen zum Gesalbten Gottes erfüllt sind, ist die Vereinigung aller Christusgläubigen das neue Jerusalem.
So steht in seinem Schriften (Walch Johann, Bd. 20, 1986):
„Solch neu Volk und neu Jerusalem ist nun die christliche Kirche, aus Juden und Heiden versammelt; die wissen, dass durch Jesus Christus die Sünde ist ein weggetan, alle Weissagung erfüllt, ewige Gerechtigkeit gestiftet. Denn wer an ihn glaubt, der ist gerecht ewiglich, und sind ihm alle seine Sünden ewiglich versiegelt, versühnt, vergeben; wie solches uns das Neue Testament gar reichlich ausstreicht, sonderlich St. Johannes, St. Petrus und St. Paulus. Es heißt nun nicht mehr: Wer zu Jerusalem opfert Schuldopfer, Sündopfer und andere Opfer, der wird gerecht, oder hat die Sünde versöhnt; sondern so heißt’s: ‚Wer glaubt und getauft wird, der ist selig; wer nicht glaubt, der ist verdammt“ [Mark. 16,16], er sei, wo er wolle in der ganzen Welt, muss nicht nach Jerusalem laufen, sondern Jerusalem ist zu ihm gekommen.“
Damit sieht Luther im nachchristlichen Judentum eine Rebellion gegen den Gott des Alten Testaments, weil sie Gottes Wort verdrehen und Christus nicht als den Messias anerkennen. Nicht umsonst spricht Luther von „störrigen, halsstarrigen, verdammten Juden“, von einem „falsch, heuchel Lügenvolk… die Gott mit dem Maul rühmen und mit dem Herzen zum Teufel fahren“.
Wie sind Luthers Verbalattacken zu werten?
Aus Luthers Schriften ist erkennbar, dass er nicht nur eine bilderreiche und verständliche sondern auch eine kräftige und derbe Ausdrucksweise pflegt, die uns heute fremd erscheinen mag. Jede Zeit hat ihre Ausdrucksformen. Doch Luther macht keinen Unterschied; er hat seine barschen Formulierungen sowohl den Juden gegenüber als auch gegen das Papsttum gebraucht. Sie ist jedoch nicht – wie ihm oft unterstellt wird – hassgeprägt gegen die Juden als Menschen an sich, sondern gegen deren Werkegerechtigkeit. Luther weiß – nicht nur was die Verbalattacken gegen die jüdische Lehre angeht – um seine menschlichen Schwächen.
Auch wenn seine Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ teilweise polemische Äußerungen beinhalten mag, so sind diese letztlich doch durch die Rechtfertigungslehre begründet. Ja, Luther mag in seinen Ausführungen weit überzogen haben. Daraus aber eine Judenfeindlichkeit abzuleiten, geht zu weit. Erst der später aufkommende rassistische Antisemitismus richtet sich gegen Menschen und sieht in ihnen eine Minderwertigkeit, die es auszurotten gilt. Luther aber sieht in den Juden sogar die „Vettern Jesu Christi“ und wünscht sie sich als Brüder im Herrn.
Doch so wie seine Vorschläge, „dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke… dass man auch ihre Häuser und dergleichen zerbreche… dafür mag man sie unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner“ („Von den Juden und ihren Lügen“, Martin Luther 1543) sind genauso wenig mit der Bibel zu vereinbaren wie die Position heutiger Vertreter evangelischer Kirchen, unter Juden nicht missionieren zu dürfen. Letzteres ist wohl weitaus gefährlicher als Luthers Verbalattacken, weil diese Irrlehre den Juden den wahren Messias, Jesus Christus, und seine Rettungsbotschaft bewusst verschweigt.
Wer Luther als Antisemit betitelt und daraus eine vermeintliche Schuld der lutherischen Kirchen ableitet, versteht Luthers reformatorischen Auftrag nicht, setzt sich ungenügend mit den damaligen politisch-sozialen Hintergründen und der Frage nach der Wahrheit der Heiligen Schrift auseinander und macht Luther in gefährlicher Weise zum Vorkämpfer nationalsozialistischen Gedankenguts.